Der Blaue / Gelbe / Grüne Reiter
Geschlechtliche und sexuelle Identitäten im (Um-)Kreis des Blauen Reiter
Von Nicholas Maniu.
Seit März 2024 zeigt das Lenbachhaus "Der Blaue Reiter. Eine neue Sprache". Die Präsentation setzt neue Akzente: neben den zentralen Themen des Kreises wird auch die Vor- und Nachgeschichte beleuchtet sowie die Rolle von weiblichen und als aus heutiger Sicht queer-gelesenen Künstler*innen.
Franz Marc geht in seinen theoretischen Überlegungen über das Wesen der Farben – inspiriert zum Beispiel von Johann Wolfgang von Goethes "Zur Farbenlehre" – von drei Grundfarben aus: Blau, Gelb und Rot. Marc ordnet den Farben dabei feste Eigenschaften zu. So schreibt er in einem Brief an August Macke aus dem Jahr 1910: "Blau ist das männliche Prinzip, herb und geistig. Gelb ist das weibliche Prinzip, sanft, heiter und sinnlich." Diese Vergeschlechtlichung von Farben und das dadurch zum Ausdruck kommende Verständnis von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit", das uns heute in jeder Spielwarenabteilung begegnet ("Rosa für Mädchen, Blau für Jungen"), ist symptomatisch für den kulturellen Umgang mit Geschlechtern und spielt eine entscheidende Rolle für die Rezeptionsgeschichte des Blauen Reiter. Die von Marc aufgegriffene Verknüpfung von "Geist" mit "Männlichkeit" und "Sanftheit" bzw. "Sinnlichkeit" mit "Weiblichkeit" ist ein misogyner Topos, der sich schon bei Aristoteles findet und erstaunliche Persistenz beweist: Das "weibliche" Prinzip wird hier der Sphäre des Körpers zugeordnet und nur dem "männlichen" Prinzip wird die Überwindung des Körperlichen und das Erreichen der geistigen Ebene zugestanden. Das eine solche Zuordnung allerdings weit weg von Marcs tatsächlicher Wirklichkeit ist, belegt ein offener Blick auf den (Um-)Kreis des Blauen Reiter.
Der Fokus auf die Geschlechterdynamiken innerhalb des Blauen Reiter rückt in den letzten Jahren zunehmend in das Zentrum des Interesses. Sowohl für die im April 2024 in Kooperation mit dem Lenbachhaus eröffnete Ausstellung "Expressionists. Kandinsky, Münter and the Blue Rider" in der Tate in London als auch für die Neupräsentation "Blauer Reiter. Eine neue Sprache" ist das Thema von besonderer Relevanz. Die für den Blauen Reiter zentrale Zusammenarbeit von Künstlerinnen und Künstlern sowie die Offenheit des Kreises gegenüber Personen, die im heutigen Sprachgebrauch weitestgehend als queer bezeichnet werden könnten, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Novum – queer meint hier geschlechtliche und sexuelle Identitäten jenseits eines tradierten, binären Geschlechterverhältnisses von Mann und Frau. Neben Künstlerinnen wie Gabriele Münter, Maria Franck-Marc, Marianne von Werefkin und Elisabeth Iwanowna Epstein sind auch "queere" Persönlichkeiten wie Else Lasker-Schüler sowie der androgyne und die Geschlechtergrenzen hinterfragende Alexander Sacharoff wichtige Figuren für die künstlerische Entwicklung und Verbreitung der Ideen des Blauen Reiter.
Auch heute noch lautet die gängige Erzählung, dass Wassily Kandinsky und Franz Marc die "geistigen Väter" des Blauen Reiter seien, obwohl es doch letztlich die besondere Gruppendynamik des gesamten Kreises war, die zur erfolgreichen Realisierung der beiden Ausstellungen und den Publikationen geführt hat. Hierin äußert sich die Tendenz zum Geniekult um männliche Künstler. Doch vor allem Werefkin und Epstein haben auch wesentlichen Anteil an der künstlerischen Genese jener neuen Bildsprache und können zu Recht als "geistige Mütter" bezeichnet werden, waren sie doch ausschlaggebend für die Formierung und die internationale Vernetzung des Kreises. Wie die Kunsthistorikerin Kimberly A. Smith in ihrem Beitrag "Reiterinnen: Women Rider" (2024) zum Katalog für die aktuelle Ausstellung in der Tate betont, wären weder der Almanach noch die beiden Blauer Reiter-Ausstellungen ohne Münter, Franck-Marc, Werefkin und Epstein möglich gewesen.
"Um jedoch außerhalb der Welt des Stils etwas zu sein, muss man mit einer Sprache reden, die noch niemand gesprochen hat." Dieses die Ausstellung im Lenbachhaus einleitende Zitat von Marianne von Werefkin ist programmatisch für unsere Neubewertung. In ihrem Salon in der Giselastraße 25 legte die Künstlerin mit ihren Gedanken sowie ihrem weitreichenden Netzwerk den Grundstein für den Blauen Reiter. Sie dachte über neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten nach, jenseits tradierter und an den Kunstakademien gelehrter Bildsprachen. Dieser theoretische Ansatz findet in Bildern wie "Prerowstrom" (1911) und "Wäscherinnen" (1909), die derzeit im Lenbachhaus zu sehen sind, unumwundenen Ausdruck. Die Motive wie auch die Malweise sind um emotionale und atmosphärische Unmittelbarkeit bemüht und nicht um eine detaillierte, aber letztlich als oberflächlich empfundene Widergabe der Wirklichkeit. Obwohl sie selbst nie den künstlerischen Weg in die Abstraktion gegangen ist, äußert etwa Norbert Göttler in seinem Buch über den Blauen Reiter die Vermutung, dass es Werefkin war, die den Begriff "abstrait" in ihrem Salon eingeführt "und damit einer Revolution in der Kunst ihren Namen gegeben hatte."
Nicht minder wichtig für die Entwicklung des Blauen Reiter war auch Elisabeth Epstein, die ab 1898 in München bei Anton Ažbe studierte und enge Kontakte zu Alexej von Jawlensky und Werefkin knüpfte. Ab 1904 bereiste sie Frankreich und die Schweiz, ehe sie ab 1906 hauptsächlich in Paris lebte. Dort freundete sie sich mit der ebenfalls aus der heutigen Ukraine stammenden Sonia Terk (später Delaunay) an und erlangte über den Kontakt zu dem Galeristen und Kunstsammler Wilhelm Uhde Zutritt zu den Pariser Avantgarde-Kreisen. 1911 war es Epstein, die den für die Entwicklung des Blauen Reiter entscheidenden Kontakt zwischen Marc und Kandinsky mit Robert Delaunay herstellte, dem zweiten Ehemann Terks. Als wichtigster Vertreter des Orphismus bzw. Orphischen Kubismus gab Delaunay mit seinen kristallinen und farbigen Bildern insbesondere Marc entscheidende Impulse.
Neben ihrem weitverzweigten Netzwerk sowie ihren theoretischen Schriften (u. a. "Einige Gedanken über Bildentstehung", 1912) ist es vor allem Epsteins Kunst, die sie wichtig für den Blauen Reiter macht. Mit einem "Selbstporträt" nahm sie an der 1. Blauen Reiter-Ausstellung 1911 teil. Im selben Jahr schuf sie auch das Selbstbildnis, das wir als Plakatmotiv für die Ausstellung "Der Blaue Reiter. Eine neue Sprache" verwenden. Selbstbewusst blickt sie die Betrachtenden an und präsentiert sich vor einem blauen Hintergrund auf einem gelben Stuhl sitzend, die rechte Hand auf der Brust ruhend. Möglicherweise kommentiert sie mit der augenfälligen Verwendung von Blau und Gelb Marcs Farbtheorie: Epstein als schillernde Persönlichkeit die vermeintlich "männliche" und "weibliche" Attribute in sich vereint.
Dass Epstein mit ihrer expressionistischen Malweise demselben Kreis angehörte wie der naturalistisch malende Jean-Bloé Niestlé und der sich zunehmend der Abstraktion zuwendende Kandinsky, ist sicherlich eine der Besonderheiten des Blauen Reiter. Die stilistische und inhaltliche Vielfalt spiegelt sich in den Biografien der Beteiligten: So setzte sich der (Um-)Kreis des Blauen Reiter u. a. aus Menschen mit Migrationshintergründen sowie Alteritätserfahrungen aufgrund des Glaubens, des Geschlechts und/oder der Sexualität zusammen.
Else Lasker-Schüler und Alexander Sacharoff stehen exemplarisch für ebendiese Offenheit. Beide stammen aus jüdischen Familien und spielen in ihrer Kunst mit den gesellschaftlich tradierten Geschlechterrollen. Else Lasker-Schüler, die eine enge Beziehung zu Franz Marc pflegte, imaginierte sich in ihren Briefen und Zeichnungen etwa als Prinz Jussuf von Theben. Diese Figur war das orientalistische und genderfluide Alter Ego der Autorin und Zeichnerin, das die Künstlerin und Kunsthistorikerin Karin R. Haslinger als "mannweiblich, unfehlbar, ein himmlisches Wesen" beschreibt. Lasker-Schüler nimmt die Perspektive Jussufs dabei nicht nur in ihren Texten ein ("Der Prinz von Theben", 1914), sondern schlüpfte auch in der Öffentlichkeit in diese Rolle: In orientalisierte Gewänder gekleidet, trat sie bei Lesungen, Cafébesuchen und Spaziergängen als Prinz Jussuf auf – eine Art Drag King-Performance. Mittels dieser Kunstfigur entwarf Lasker-Schüler eine Welt jenseits der rigiden Strukturen des Deutschen Reichs – sowohl was das Geschlecht angeht als auch hinsichtlich der zunehmenden Ausgrenzung jüdischer Menschen.
Ebenso interessiert an der Verwischung der Geschlechtergrenzen war der aus Mariupol stammende Alexander Sacharoff, der 1905 für seine Tanzausbildung nach München kam. Auch wenn er im heutigen Sprachgebrauch wohl als nicht-binär zu bezeichnen wäre, verwendet die Ausstellung im Lenbachhaus in Einklang mit historischer Korrespondenz männliche Pronomen. In seinen tänzerischen Darbietungen, Kostüm- und Bühnenentwürfen sowie seiner Erscheinung spielt er bewusst mit dem, was gesellschaftlich als "männlich" oder "weiblich" angesehen wurde bzw. wird. Er verunklärt die (vermeintlich) klare Unterscheidung von "Mann" und "Frau" und kreiert im Zuge dessen eine gänzlich androgyne Ästhetik. Damit lehnt er sich gegen die im klassischen Tanz tradierte und besonders strikte Geschlechtertrennung auf, wie sie sich etwa in der Rollenverteilung im Pas de deux zeigt. Mit diesem Ansatz stieß er vor allem bei Werefkin und Jawlensky auf große Bewunderung. Wiederholt malten sie den Tänzer und Künstler. Jawlenskys "Bildnis des Tänzers Alexander Sacharoff" (1909) ist diese Faszination anzumerken: Eindringlich blickt Sacharoff den Betrachter*innen frontal entgegen und fordert mit seinem Auftreten die strikte Trennung von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" heraus.
Dass der Blaue Reiter auch heute noch ein großes Publikum begeistert, liegt schließlich in der künstlerischen und menschlichen Offenheit. Seine Mitglieder erkannten schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, welche kreative Kraft in Diversität liegt. Wie anhand von Marcs Farbtheorie zu sehen, war jedoch auch der Blaue Reiter nicht frei von geschlechtsspezifischen Stereotypsierungen, wie sie den Konventionen der Zeit folgten. Dennoch stellt seine auffällige Vielfalt gerade in Zeiten zunehmender Ausgrenzung und einer "Wir-gegen-die"-Mentalität ein eindrückliches Plädoyer für eine weltoffene Gegenwart dar.
Ein barrierefreier Zugang zur Ausstellung ist über den Lift im Atrium möglich.