Turner und das Wetter
Von Nicholas Maniu.
Am 28. Oktober eröffnet das Lenbachhaus in Kooperation mit der Tate "Turner. Three Horizons" im Kunstbau. Eines der Werbemotive und das Hauptwerk der Ausstellung ist das erstmals 1842 in der Royal Academy in London gezeigte Bild "Schneesturm". Das Gemälde, auf dem ein Dampfschiff inmitten eines wirbelartigen Orkans zu sehen ist, repräsentiert eines der Lieblingsmotive von Joseph Mallord William Turner: das Wetter. Und mit seinem Interesse für das Wetter war Turner nicht allein.



1802 präsentierte beispielsweise der Londoner Apotheker Luke Howard seine Studien zu den verschiedenen Wolkenarten und setzte damit einen wichtigen Grundstein für die Wissenschaft der Meteorologie – Goethe widmete ihm mit "Howards Ehrengedächtnis" 1821 sogar eine (Lobes-)Hymne.
Die Naturwissenschaftler*innen Michael Faraday und Mary Somerville, zu denen Turner persönlichen Kontakt pflegte, forschten unter anderem zu Elektromagnetismus und der Beschaffenheit des Lichts. Ihre Erkenntnisse versuchte Turner in seinen Bildern umzusetzen.
Zudem wurden zu dieser Zeit unter den Begriffen "Vulkanismus" und "Neptunismus" zwei fundamentale Theorien zur Entstehung der Erde diskutiert: Erstere argumentiert, dass die Erde durch vulkanische Aktivitäten geformt wurde. Diese Ansicht war in Turners Heimat Großbritannien besonders verbreitet. Sie gewann nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien 1815 an Aktualität: die Unmengen an Staubteilchen in der Luft führten 1816 in Europa zum „Jahr ohne Sommer“. Der Neptunismus hingegen sieht den Ursprung der Welt im Wasser und geht davon aus, dass sich die Erde über Jahrmillionen durch die Ablagerung von Sedimenten entwickelt habe.
Vor diesem Hintergrund der sich allmählich ausdifferenzierenden wissenschaftlichen Disziplinen der Geologie, Physik, Chemie und Meteorologie eröffnen sich bei der Betrachtung von Turners Werken spannende Zugänge.
Bereits im Frühwerk zeigt sich Turners Vorliebe für Wetterstimmungen und Atmosphäre: Als er 1789 mit gerade mal 14 Jahren sein Studium an der Royal Academy in London aufnahm, schuf er zuerst fast nur Aquarelle. Aus dieser Zeit stammt eines seiner frühesten erhaltenen Werke: eine Ansicht der "Llanhtony Abtei" von 1794. Es zeigt eine Klosterruine vor einer wolkenverhangenen Berglandschaft. Durch die Aquarelltechnik gelingt es Turner, die durchscheinende und ephemere Qualität der Wolken und des aufsteigenden Dunstes einzufangen. Sowohl die Ruine als auch die flüchtige Wetterlage verweisen damit auf das in der Epoche der Romantik so beliebte Thema der Vergänglichkeit.
Ein vergleichbares Motiv, nun in Öl, stellte Turner 1798 in der Sommerausstellung der Royal Academy aus: das Gemälde "Morgen in den Coniston Fells, Cumberland". Auch hier zeigt er eine morgendliche und nebelverhangene Berglandschaft. In einem der unzähligen Skizzenbücher existiert eine Vorzeichnung, die im Sommer 1797 entstanden sein muss, als Turner den Norden Englands bereiste.
Das unmittelbare Studium nach der Natur nimmt eine wichtige Rolle in Turners Arbeitsweise ein: Er fertigte auf seinen Reisen – bei jedem Wetter – zahlreiche Skizzen und Studien, die er dann im Atelier ausarbeitete. Nur durch diesen detaillierten Blick war es ihm möglich, die Nuancen des Lichts sowie die Stimmungen bei unterschiedlichen Wetterlagen einzufangen. Die Kunsthistorikerin Monika Wagner spricht diesbezüglich von einer "Autopsie des Landes". Ein besonders schönes Beispiel für diese direkte Auseinandersetzung mit der Natur findet sich im so genannten Hereford Court Skizzenbuch: Darin ist eine Ansicht des Bergrückens Cader Idris in Nordwales zu sehen. Die zahlreichen Tropfen auf dem Papier lassen vermuten, dass Turner bei der Anfertigung der Aquarellskizze vom Regen überrascht wurde.
Dieses umfangreiche Studium in der Natur nutzte Turner zudem für seine biblischen und mythologischen Landschaftsbilder. In dem Ölgemälde "Die zehnte ägyptische Plage" (1802) inszeniert er ein aufziehendes Gewitter, um den Zorn des alttestamentlichen Gottes gegen das ägyptische Volk darzustellen. Sich auftürmende Gewitterwolken vor einer antikisierten Stadtkulisse verbildlichen die Rache für die Versklavung der Hebräer*innen. Die eigentliche Plage, die Tötung aller Erstgeborenen, deutet Turner nur durch eine kleine Gruppe von Figuren in der linken Bildhälfte an. Die detaillierte Ausführung der Wolken bezeugt Turners Interesse an den zur selben Zeit ausgeführten Wolkenstudien von Howard.
Während die Natur und das Wetter in "Die zehnte ägyptische Plage" noch einem biblischen Motiv untergeordnet sind, erhebt Turner sie in "Niedergang einer Lawine in Graubünden" (1810) zum eigentlichen Bildgegenstand: Er zeigt eine Landschaft in den Schweizer Alpen, die von einer massiven Lawine verschüttet wird. Dynamische Pinselstriche lösen feste Formen auf und zeigen die Gewalt und Übermacht einer Lawine auf der Leinwand. Dabei nimmt die Lawine und die aufgewühlte Luft über die Hälfte der Bildfläche ein – ein klarer Hinweis darauf, wo das Interesse des Künstlers liegt. Obwohl Turner zum Entstehungszeitpunkt des Bildes die Schweiz bereist hatte, gibt es keine Hinweise, dass er zu diesem Zeitpunkt selbst eine Lawine erlebt hat. Vermutlich bekam er die Anregung für das Gemälde aus Zeitungsberichten über ein Lawinenunglück in Graubünden im Dezember 1808.
Mit dieser dramatischen Alpenszene sowie dem Unwetter in "Die zehnte ägyptische Plage" bedient Turner ein Thema, das sich bei seinen Zeitgenoss*innen großer Beliebtheit erfreute: "das Erhabene" bzw. "das Sublime". Dieses auf den Philosophen Edmund Burke zurückgehende Konzept umschreibt die menschliche Lust beim Anblick des Schrecklichen und des Überwältigenden. Turner befriedigt mit Bildern von Naturgewalten ebendieses Verlangen nach einer (sicheren) Konfrontation mit dem Erhabenen.
Das eingangs erwähnte Gemälde "Schneesturm – Ein Dampfschiff im flachen Wasser vor einer Hafeneinfahrt gibt Leuchtsignale ab. Der Autor war in diesem Sturm in der Nacht, als die Ariel Harwich verließ" von 1842 gehört ebenfalls zur Gruppe der erhabenen Natur- und Wettermotive. Wie der lange und vom Künstler selbst vergebene Titel schon andeutet, war "der Autor" des Bildes – gemeint ist Turner, der sich hier interessanterweise als Autor und nicht als Künstler oder Maler bezeichnet – vor Ort, als das Dampfschiff in ein Unwetter geriet. Und nicht nur das: Turner behauptet zudem, dass er sich an Deck des Schiffes habe anbinden lassen, um den Sturm am eigenen Körper erleben und genau beobachten zu können. Auf jeden Fall vermittelt das Gemälde einen intensiven Eindruck davon, wie es sich auf einem Schiff während eines Schneesturms anfühlen muss: Rechts von der Bildmitte sehen wir das gegen die peitschenden Wellen ankämpfende Dampfschiff, das vom gleißenden Licht einer Signalrakete erleuchtet wird. Aus dem Schiffsschornstein steigt eine dunkle Rauchwolke auf und wird sogleich in den tosenden Wirbel aus Wind, Gischt und Schnee eingesogen. Der durch die energiegeladenen Pinselstriche entfesselte Bewegungsfluss umkreist das Schiff bedrohlich und verbildlicht den absoluten Kontrollverlust angesichts der Naturgewalten. Ähnlich wie in "Niedergang einer Lawine in Graubünden" ist Turner hier wiederholt vom Wunsch geleitet, Naturerfahrungen „authentisch“ darzustellen. Dies führt ihn – sehr zum Unverständnis der zeitgenössischen Kunstkritik – zur Auflösung der Formgrenzen: Schiff, Meer und Himmel scheinen sich gegenseitig zu durchdringen. Die formale Auflösung in Turners Werken steht also in direktem Zusammenhang mit seiner künstlerischen Faszination für die Darstellung atmosphärischer Wetterstimmungen.
Auch in Turners Venedig-Bildern macht sich dies bemerkbar. Bilder wie etwa "Venedig – Santa Maria della Salute", das er 1844 in der Royal Academy zeigte, führen die Auflösung der Grenzen zwischen konkreten Formen weiter und präsentieren die Lagunenstadt als ephemere "Feenstadt", wie es die Kritik formulierte. Der aufsteigende Dunst des Meeres verschleiert die Ansicht der Stadt. Schemenhaft ist der Umriss der titelgebenden Kirche Santa Maria della Salute zu erkennen sowie einige Schiffe und Gondeln. Der Horizont scheint sich an einigen Stellen komplett aufzulösen. In den Venedig-Bildern, von denen Turner ab 1833 jährlich mehrere auf den Ausstellungen in der Royal Academy zeigte, tritt die Stadt als eigentliches Bildmotiv zunehmend in den Hintergrund und an ihre Stelle tritt die pure Atmosphäre.
Turners Bilder, so der Kunsthistoriker Eberhard Roters, gehören zu den "ersten meteorologischen Landschaften", in denen die Natur nicht nur eine starre Kulisse für die "Schicksalsdramen" eines biblischen, mythischen oder historischen Figurenpersonals ist. Seine Landschaften sind Zeugnis für ein wachsendes Bewusstsein über die Unbeständigkeit und Komplexität der Welt bzw. Natur. Angesichts der von drastischen Veränderungen geprägten Zeit, in der Turner lebte, erscheint dieses Interesse an flüchtigen Phänomenen nur konsequent: Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg beginnt 1775 (Turners Geburtsjahr) und ab 1792 bricht infolge der Französischen Revolution auch in Europa wieder Krieg aus. Zugleich führt die Industrialisierung zu rasanten Umwälzungen der Lebenswirklichkeit. All dies zeigt sich in den atmosphärischen Landschaften Turners, in denen die Natur allein zum Handlungs- und Bedeutungsträger erhoben wird. Die Flüchtigkeit und Drastik meteorologischer Phänomene wird zum Sinnbild einer Welt im Umbruch. Genau dies macht Turners Kunst auch für uns heute angesichts der immer spürbareren Folgen des Klimawandels so anschlussfähig und aktuell.