Zwischen Museum und Metaverse

Von Vera Tollmann.

Das Collaboratory ist nicht mit einem Game zu verwechseln, auch wenn zunächst ein Username eingetippt und eine Farbe für den Avatar gewählt werden muss, bevor man 'drin' ist, im digitalen Raum mit Bühne, Workshops und Kunstobjekten. Dieser Open Space ist eine Erweiterung der Kunstvermittlung am Lenbachhaus in München. Das Collaboratory hat immer geöffnet, es fragt nicht nach der Eintrittskarte und kommt ohne Aufsichtspersonal aus. Als Tool für Kunstvermittlung während der Pandemie entwickelt, hat das Collaboratory das Potential, über die unabsehbare Dauer dieser Pandemie hinaus zu bestehen. Wie der Name besagt, geht es hier um Teilhabe, Mitgestalten und Experimentieren. Das Collaboratory setzt auf einige spielerische Aspekte – im Wissen, dass ein Avatar in einer bunten Umgebung mit virtuellen Objekten die Aufmerksamkeit steigert. Das Collaboratory steht für selbstbestimmte Digitalisierung als Gegenentwurf zu den sozialen Netzwerken im Plattformkapitalismus.

Deswegen entstand das Collaboratory unabhängig von algorithmisch gesteuerten Feeds und Channels, damit die Beteiligten unmittelbar zusammenarbeiten und kommunizieren können, ohne nebenbei Daten zu produzieren, die später kommerziell ausgewertet werden. Denn im Unterschied zum Teilen, Liken und Kommentieren steht Kollaborieren für kollektive Entscheidungsprozesse. Die Game-Elemente dienen demnach vielmehr als Icebreaker. Durch den Open Space kann man ohne Joystick-Geschick, Shortcut-Wissen, Coding-Kenntnisse navigieren. Zu den Rabbit Holes, die für Games typisch sind, gehören Projekte wie der digitale Laden, eine Hommage an den Konzeptkünstler Hans-Peter Feldmann und dessen Düsseldorfer Laden für amüsanten Kitsch und kunstvolles Spielzeug, der sich nach 40 Jahren Betrieb seit 2015 in der Sammlung des Lenbachhauses befindet. Im Open Space erfährt der Laden, heute eine Zeitkapsel und Sammlung von Objekten, die es für kleines Geld gab, ein digitales, kollektiv bearbeitetes Update.

Wenn der Medienwissenschaftler Felix Stalder für die digitalen Kulturen drei zentrale Formen ausmachen konnte – algorithmicity, referentiality, communality –, dann liegt im Collaboratory der Fokus auf dem Gemeinschaftlichen, dem Sozialen, den Commons. Des weiteren ist die Konzeption des Open Space von kritischem Mediendenken inspiriert, von Lisa Nakamuras Kritik an der eingeschränkten Auswahl etwa oder unvermeidlichen Zuordnungen von Identitätsmerkmalen und deren Kontrolle. So entstand die Avatar-Kugel, die keine Stereotypen und fixe Kategorien bedient. Die Kugeln hüpfen, rollen, fliegen – hier triggert kein Algorithmus die nächste Reaktion, den übernächsten Click, sortiert Beiträge oder entscheidet 'Game Over'. Teilhaben bedeutet im Collaboratory, das zum großen Teil auf Open Source-Elementen aufbaut, unerreichbar zu sein für Kommodifizierung und Verhaltenssteuerung im "Überwachungskapitalismus", wie die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshanna Zuboff die gängige Wirtschaftsform der Gegenwart kritisch nennt. Vielmehr zeigt sich im Onlinelaboratorium, was möglich ist, wenn die großen Plattformen nicht die Templates vorgeben und nicht die Community Guidelines bestimmen.

In scheinbar endlos weiten digitalen Spielwelten hat der programmierte Raum Grenzen, wie der Filmemacher Harun Farocki in seiner dokumentarischen Erkundung "Ernste Spiele I-III" vorgeführt hat. Wenn die Gamer die Spiellogik verlassen, aus dem Spiel austreten, betreten sie ein Off, das im Collaboratory nicht versteckt wird. Hier sitzen die Objekte von Anfang an auf der gut sichtbaren, typischen Gitterstruktur, die den virtuellen Raum organisiert. Es ist eine offene Fläche mit einigem Platz für zukünftige Projekte.

Im Collaboratory können alle landen, die einen Internetzugang haben und ein Interesse an Kunst und damit verlinkten gesellschaftlichen Fragestellungen. Es ist ein Forum, keine Plattform und bewegt sich zwischen früher Internetästhetik und partizipativen Tools des World Wide Web; es bedient sich sozusagen bei der Antike von Internet und Virtual Reality, ihren grellen Farben und ersten Emojis, ihrer Geometrie und Glitches, Fehlerästhetik und Bildstörung. Auf diese Weise ist mit dem Collaboratory eine Hommage an eine Zeit im Netz entstanden, die technologisch bedingt langsamer, datenärmer und undefinierter war – die mit aktuellen Diskursen und smoothen Datenbanken von heute im Browser belebt werden. Während die Post-Internet Art vor einigen Jahren bemüht war, ästhetische Erfahrungen und Motive digitaler Kulturen in den realen Ausstellungsraum zu übersetzen, kann nun umgekehrt behauptet werden, das Collaboratory stehe für den Versuch, die Offenheit kollaborativer Vermittlungsformate in eine digitale Umgebung zu übertragen. Nicht etwa aus rein pandemischer Notwendigkeit, sondern im Sinne der Künstlerin und Kuratorin Legacy Russell, wenn sie in ihrem Manifestessay "Glitch Feminism" betont: "[t]he Internet’s virtual channels provide protection from physical injury, make room for an expression of ideas and politics in a fantastic forum, thus amplifying collectivity, coalition-building, and one’s courage to individuate." Das Collaboratory ist ein modulares System, das weiterentwickelt werden kann, ausbaufähig bleibt, ohne einheitliche Form. Wie der Medientheoretiker und -aktivist Geert Lovink nach der Kulturtheoretikerin Lauren Berlant schreibt: "Commons are only beginnings".

Vera Tollmann ist Dozentin im Major Digital Media an der Leuphana Universität. Sie hat 2020 an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg promoviert.