Erinnerung leben

Der Kunstsammler Carl Heumann und seine Familie heute. Ein Gespräch mit der Enkeltochter Carol Heumann Snider

Von Melanie Wittchow

 

Derzeit recherchieren mehrere deutsche Museen über den Kunstsammler Carl Heumann (1886–1945), der in den 1920er- und 1930er Jahren eine bedeutende Grafiksammlung deutscher und österreichischer Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts mit Schwerpunkt auf der Romantik aufbaute. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft wurde er unter dem nationalsozialistischen Regime verfolgt. In Anerkennung seines Verfolgungsschicksals wandten sich unter anderem das Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin und die Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München an die Nachfahr*innen von Carl Heumann, um gemeinsam eine gerechte und faire Lösung betreffend die Kunstwerke aus seiner Sammlung zu finden.

In einem Gespräch zum »Tag der Provenienzforschung« am 14. April 2021 mit den Provenienzforscherinnen Dr. Katja Lindenau (Staatlichen Kunstsammlungen Dresden) und Melanie Wittchow (Lenbachhaus) erzählt Carol Heumann Snider, die Enkeltochter des Kunstsammlers Carl Heumann, von ihrem Großvater und ihrem Vater Thomas Heumann. Sie schildert, wie sie die Erzählungen der beiden und ihre Erinnerungen für ihre Kinder und Enkelkinder bewahrt. Dabei gibt sie einen tiefen Einblick in das Leben ihrer Familie und zeigt auf, wie das Schicksal beider Vorfahren alle Familienmitglieder bis heute berührt und was ihnen mögliche Restitutionen bedeuten.

Das Interview wurde am 19. März 2021, dem 135. Geburtstag von Carl Heumann, in englischer Sprache geführt, aufgezeichnet und hier in schriftlicher Form in deutscher Sprache sinngemäß wiedergegeben. Hier können Sie das Interview im Original anhören:

 

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Melanie Wittchow (MW): Hallo und herzlich willkommen zu unserem Gespräch »Erinnerung leben: Der Kunstsammler Carl Heumann und seine Familie heute«. Mein Name ist Melanie Wittchow. Ich bin Provenienzforscherin am Lenbachhaus in München.

Seit 2019 gibt es jeweils am zweiten Mittwoch im April den neu etablierten Tag der Provenienzforschung. Dieses Jahr feiern wir außerdem »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«. Aus diesem Anlass möchten wir darüber sprechen, wie die Provenienzforschung dazu beiträgt, die Erinnerung lebendig zu halten.

Zu diesem Gespräch begrüßen wir ganz herzlich Carol Heumann Snider. Sie ist die Enkelin des Kunstsammlers Carl Heumann aus Chemnitz in Deutschland. Über ihn und seine Familie möchten wir heute sprechen. Carol, danke, dass du uns aus Gig Harbour, Washington, in den USA zugeschaltet bist. Es ist so schön, dich heute hier zu haben!

Ein herzliches Willkommen auch an Katja Lindenau. Sie ist Provenienzforscherin am Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Ich freue mich sehr, dass du heute bei unserem Gespräch über den Kunstsammler Carl Heumann dabei bist.

Vor mehr als zwei Jahren hat das Museum in Dresden gemeinsam mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Hamburger Kunsthalle diejenigen Museen, in deren Beständen sich Objekte aus der Kunstsammlung Carl Heumann befinden, aufgerufen, das Verfolgungsschicksal des Kunstsammlers und seiner Familie anzuerkennen und mit den Erben der Familie in Kontakt zu treten. Das Ziel sollte sein, mit ihnen gerechte und faire Lösungen hinsichtlich der Kunstwerke aus der Sammlung Carl Heumann zu finden.

Katja, du bist eine der Forscherinnen in Deutschland, die das initiiert haben. Kannst du erklären, wie und warum es dazu kam?

Katja Lindenau (KL): Sehr gerne. In meiner Arbeit als Provenienzforscherin überprüfe ich die Bestände unseres Museums auf unrechtmäßigen Erwerb. Dabei liegt ein Fokus auf den Jahren 1933 bis 1945, als die Nationalsozialisten in Deutschland an der Macht waren und viele Kunstwerke in dieser Zeit die Besitzer*innen und Eigentümer*innen wechselten. Ein großer Teil davon wurde von den Behörden beschlagnahmt, oder die Besitzer*innen und Eigentümer*innen wurden gezwungen, sie zu verkaufen. Vor einigen Jahren machten mich Kolleg*innen aus anderen Museen in Deutschland und Österreich auf die Sammlung des Kunstsammlers und Mäzens Carl Heumann aufmerksam.

Bei der Durchsicht unserer Sammlung fand ich zwei Aquarellzeichnungen von dem österreichischen Künstler Peter Fendi sowie eine Öl-auf-Papier-Zeichnung von Jakob Gensler, die ein Mädchen mit einem Papagei zeigt. Alle drei Werke wurden 1944 von dem Kunsthändler C.G. Boerner in Leipzig erworben. Stück für Stück versuchte ich, mehr über das Schicksal des Vorbesitzers herauszufinden und darüber, wie diese Kunstwerke aus seiner Sammlung verschwanden. Am Ende wussten wir, dass Carl Heumann aufgrund seiner jüdischen Herkunft diese Werke nicht freiwillig verkauft hatte, und wir begannen, uns an andere Museen und an die Erben von Carl Heumann zu wenden.

MW: So sind Katja und ich in Kontakt gekommen, und ich konnte herausfinden, dass das Lenbachhaus auch ein Kunstwerk aus der Privatsammlung von Carl Heumann erworben hat, nämlich die Zeichnung »Fischerweide« des Künstlers Albert Emil Kirchner.

KL: Carol, wir haben monatelang versucht, Carl Heumanns Biografie zusammenzusetzen. Wie und wann hast du vom Schicksal deines Großvaters Carl Heumann und deines Vaters Thomas Heumann erfahren? Habt ihr in eurer Familie darüber gesprochen?

Carol Heumann Snider (CHS): Als ich ein Kind war, haben wir über die Kindheit meines Vaters gesprochen. Da es eine so traumatische Kindheit war, denke ich, dass mein Vater versucht hat, uns vor dem Trauma zu schützen, das er selbst erlebt hat. An unseren Wänden hingen Gemälde und Aquarelle. Wir wussten, woher sie kamen. Wir wussten, dass sie von seinem Vater stammten, den wir natürlich nie kennengelernt haben. Aber wir wussten nicht, was mein Vater fühlte und dachte, wir wussten nur, dass sie aus seiner Heimat stammten. Kurz zum Hintergrund: Es war offensichtlich, dass meine Eltern Immigranten waren. Ich wusste, dass mein Vater über einen Koffer sprach, den er bei sich hatte, als er mit dem Schiff in die Vereinigten Staaten kam.

Wenn wir über seine Kindheit sprachen, war das meist in Situationen, in denen er uns nicht entkommen konnte, und damit meine ich, dass wir im Auto saßen und zum Beispiel zum Lake Tahoe fuhren, was eine vierstündige Fahrt war. Wir baten ihn, uns Geschichten zu erzählen. Und er erzählte uns diese charmanten Geschichten, wie zum Beispiel, als er und sein Bruder beinahe die Garage in die Luft jagten, weil sie ihren Chemiebaukasten zweckentfremdet hatten. Oder wie ihre kleine Schwester ein Nickerchen machte und sie einen Lebkuchen aus dem Ofen nahmen, der verbrannt war, und sie ihr sagten: »Oh, wir haben deine Puppe verbrannt.« Ich meine, wirklich lustige, kleine Geschichten wie diese, die jedes Geschwisterkind erzählen würde.

Aber er sagte nie: »Ich ging und fand die Leiche meines Vaters und grub sein Grab.«

Das waren Dinge, die wir erst viel später erfuhren. Das fing erst an, als ich aufs College ging und mein Vater plötzlich dieses Bedürfnis verspürte, uns mehr zu erzählen. Er begann sein erstes Buch zu schreiben »Das längste Jahr im jungen Leben des Peter Bauer«. Ich denke, es war einfacher, in der dritten Person über sein Trauma zu sprechen und sich ein Pseudonym zu geben, um nicht die ganze Zeit das Pronomen »ich« benutzen zu müssen.

Den größten Teil meiner Kindheit wollte er uns einfach nur beschützen; das hat sich später aber geändert.

MW: Kannst du uns erzählen, wann und wie du zum ersten Mal erfahren hast, dass sich Kunstwerke aus der Sammlung deines Großvaters in österreichischen und deutschen Museen befinden? Wie hat sich die Zusammenarbeit mit den Provenienzforscher*innen entwickelt?

Vielleicht kannst du uns auch ein wenig über Julia Eßls Besuch in den USA im Jahr 2014 erzählen?

CSH: Ja, es war ein ganz besonderer Tag. Ich glaube, es war der 22. Januar 2014. Ich werde ihn nicht vergessen. Denn ich bin aufgewacht, habe meine E-Mails gecheckt,und da war eine Nachricht von einer Frau namens Julia Eßl. Sie sagte, sie sei Provenienzforscherin in Österreich und sie glaube, einige Werke aus der Sammlung meines Großvaters gefunden zu haben, und ob ich bereit wäre, mit ihr zu sprechen. Das war sehr aufregend für mich, weil ich meinen Großvater selbst nie getroffen und nur Geschichten über ihn gehört hatte. Und nun war hier jemand, der etwas über ihn zu wissen schien. Also habe ich das als Enkelin, die sich für ihre Familiengeschichte interessiert, sofort aufgegriffen.

Vorausgegangen war außerdem ein Treffen, das mein Vater für unsere Familie organisiert hatte, bei der er mit seinen Kindern, seinen Nichten, seinen Neffen und natürlich seiner Schwester Uli, die in Kalifornien lebt, in Kontakt kam. Er wollte, dass wir alle zusammenkommen, weil er uns Dinge aus seiner Vergangenheit wie er sagte »mit warmen Händen« vermachen wollte, bevor er stirbt.

CHS: Darunter waren einige offizielle Dokumente wie zum Beispiel die jüdische ›Kennkarte‹ meines Großvaters, sein Personalausweis mit dem ›J‹ darauf. Oder ein Dokument, das besagte, dass er strafrechtlich verfolgt worden war und dass er in einem Arbeitslager gewesen war.

Alle diese Dinge gab er an seine Familienmitglieder weiter. Das war einfach erstaunlich für mich, das hat mich wirklich tief berührt,und ich wollte wissen, wer diese Person war.

Das war also vor der E-Mail von Julia. Als diese E-Mail kam, plante meine Familie gerade eine Reise nach Deutschland und Österreich. Wir alle sechs – wir haben vier Kinder.

Und ich sagte zu Julia, dass wir in ein paar Monaten in Österreich wären und uns treffen könnten.

Das Wichtigste, was mir persönlich in Erinnerung geblieben ist, als ich Julia Eßl in der Albertina in Wien getroffen habe und sie mich in ihr Büro führte: Dort waren in einem Bücherregal drei oder vier sehr breite Ordner, auf deren Rücken »Carl Heumann« stand.

Mein erster Gedanke war: »Wie ist es möglich, dass jemand meinen Großvater, den ich gar nicht kenne, so gut kennt, dass er ganze Ordner mit Informationen über ihn füllen kann?«

Das hat einfach die Neugierde und die Aufregung zwischen Julia und mir geweckt, auch weil wir uns wirklich gut verstanden haben. Wir wurden Freunde. Nach unserem Besuch hat sie mir geschrieben und gefragt: »Was hältst du von einem Besuch von mir? Das war nur der Anfang einer absolut wunderbaren Zeit.«

Als Julia das erste Mal Kontakt mit mir aufnahm und sagte, sie habe die Möglichkeit, nach Amerika zu kommen, blockte mein Vater ab. Doch dann lenkte er ein und sagte: »Okay, gut, ich werde mit ihr reden.«

Daraufhin kam sie und verbrachte drei oder vier Tage mit meinem Vater. Sie waren die besten Freunde. Mein Vater konnte ihr nicht genug Dinge zeigen. Er fand hier ein Dokument und dort ein anderes Dokument, sie sprachen Deutsch und sie wurden liebe, liebe Freunde. Als es Zeit für sie war, zu gehen, gab es überall Tränen, auch bei meinem Vater. Es war also eine 180-Grad-Wende.

KL: Vielen Dank, Carol, für diesen lebendigen Bericht über Julia Eßls Besuch und die Beziehung zwischen Julia und dir und deinem Vater. Wir beide sind Julia Eßl in Wien und auch Hanna Strzoda in Berlin sehr dankbar, die viel recherchiert und ihre Erkenntnisse dankenswerterweise mit uns geteilt haben.

Momentan möchten drei Museen in Berlin, Dresden und München in naher Zukunft Kunstwerke zurückgeben. Carol, du bist die Erbenvertreterin. Das heißt, du sprichst für alle rechtmäßigen Erb*innen deines Großvaters und regelst die Kommunikation zwischen den Mitgliedern deiner Familie und den Museen bezüglich des Restitutionsprozesses. Kannst du uns ein wenig darüber erzählen, was es für deine Familie bedeutet, die Kunstwerke, die deinem Großvater vor 80 Jahren verfolgungsbedingt entzogen wurden, zurückzubekommen? Besonders interessiert uns, was die jüngere Generation darüber denkt.

CHS: Das ist eine wirklich gute Frage. Tatsächlich setzen wir uns als Familie gerade mit diesem Thema auseinander. Zunächst einmal: Dass ein Teil der Kunst restituiert wird, bedeutet uns, aufgrund unserer Verbindung zu unserem Großvater, alles. Das ist ein Mann, den wir nie gekannt haben, von dem wir aber unser ganzes Leben lang gehört haben. Mein Vater hat mit großer Ehrfurcht von ihm gesprochen und uns das auch eingeflößt, sodass wir wussten, dass Carl ein wunderbarer Mann war. Wir waren traurig, dass wir ihn nicht kennengelernt haben. Dieser kleine Faden einer Verbindung von Carl zu seinen Enkeln, zu seinen Urenkeln bedeutet uns alles.

Restitution ist eine seltsame Sache, weil sie diesen sehr starken emotionalen Aspekt hat. Dann gibt es diesen logistischen Aspekt. Es gibt möglicherweise auch einen finanziellen Aspekt, den wir gar nicht in den Vordergrund stellen wollen. Aber er findet immer wieder seinen Weg hinein.

Ich war die Testamentsvollstreckerin für den Nachlass meines Vaters, was bedeutet, dass ich mich nach seinem Tod um alles kümmerte, was seinen Nachlass betraf. So wurde ich zur Hauptansprechpartnerin. Ich brachte seine direkten Nachkomm*innen, das sind sechs Menschen in dieser direkten Linie, zusammen. Das ist eine sehr überschaubare Menge an Leuten, mit denen man arbeiten kann. Wenn man dann die nächste Generation mit all unseren Enkeln hinzunimmt, steigt die Zahl auf 23. Also hielten wir es ziemlich klein und trafen die Entscheidungen gemeinsam. Wir haben uns im letzten Jahr digital getroffen, aber davor haben wir uns gegenseitig besucht.

CHS: Vor etwa zwei Wochen kam mein 30-jähriger Sohn zu Besuch, der sich sehr für Geschichte interessiert und fließend Deutsch spricht. Er fragte, wie alles so läuft, und ich habe ihm gesagt: »Na ja, es gibt einige Stücke, die uns zurückgegeben werden, und wir hätten gerne einige davon, weil wir sie gerne an unseren Wänden sehen würden. Andere würden wir gerne in Deutschland bleiben sehen, dass sie dort von den Leuten wertgeschätzt werden können. Vielleicht wollen wir ein oder zwei von ihnen verkaufen. Wir wissen es nicht.«

Mein Sohn, der eine sehr starke Persönlichkeit ist, antworte: »Mama, ich würde gerne an den Tisch gebeten werden, wenn über diese Dinge gesprochen wird. Ich bin auch ein Erbe von Carl. Er ist auch für mich wichtig, und ich denke, ich spreche für meine Cousins und Cousinen, wenn ich sage, bitte trefft keine Entscheidungen ohne uns.«

Im Moment ist unsere Herausforderung, wie wir damit umgehen sollen. Wie können wir die Meinung unserer erwachsenen Kinder respektieren, ohne das Ganze in eine verrückte Situation zu verwandeln? Wir haben uns nun darauf geeinigt, dass wir jeweils mit unseren Kindern sprechen, ihre Meinung einholen und mit einer allgemeinen Meinung für unsere Familie zurückkommen. Es ist wirklich wichtig für uns, alle einzubeziehen,und das ist nicht einfach. Das ist der Punkt, an dem wir nun gerade stehen.

MW: Lass uns noch einmal auf deine beiden Blogs zurückkommen, die du schon erwähnt hast. Ich finde es immer toll, wenn jemand sagt, dass es wichtig sei, die Erinnerung lebendig zu halten. Aber du sagst das nicht nur, du lebst diese Idee.

In deinen beiden Blogs »Northwestladybug« und »Briefe von Omi« erzählst du die Geschichte deines Großvaters und deines Vaters. Mir gefällt besonders dein Blog »Briefe von Omi«, weil ich die Idee liebe, dass sich der Blog an deine Enkelkinder richtet. Jeder Beitrag beginnt mit »Liebe Enkelkinder« und dann erzählst du von Familienmitgliedern, die sie natürlich nie kennengelernt haben. Das ist eine großartige Sache, die Erinnerung für die Zukunft zu bewahren.

Gehen wir noch einmal in die Vergangenheit zurück. Dein Großvater Carl Heumann wurde am 19. März 1886 in Köln als Sohn jüdischer Eltern geboren. Im Jahr 1917 konvertierte er zum Protestantismus, als er deine Großmutter, die Protestantin war, kennenlernte und heiratete. Trotzdem wurde Carl Heumann von den Nazis als ›Volljude‹ betrachtet. Zunächst war er durch seine privilegierte, sogenannte Mischehe noch geschützt, aber im Jahr 1938 verlor er seine Anstellung in seinem eigenen Bankhaus, er musste die ›Judenvermögensabgabe‹ zahlen und durfte seine eigenen finanziellen Angelegenheiten nicht verwalten. Kurzum, er wurde vom nationalsozialistischen System verfolgt. Nach dem Tod seiner Frau Irmgard im Januar 1944 war er noch ungeschützter und verletzlicher. Tragischerweise kam er am 5. März 1945 bei einem Bombenangriff in Chemnitz ums Leben.

MW: Dein Vater, Thomas Heumann, überlebte den Zweiten Weltkrieg. Er verließ Deutschland 1953 und ging in die USA. Auch er war im Nationalsozialismus aufgrund seines Status als sogenannter Halbjude verfolgt worden.

Viele jüdische Menschen betrachten sich nicht als religiös, sondern definieren sich über ihre jüdische Herkunft. Kannst du uns sagen, welche Rolle die jüdische Herkunft im Leben deines Vaters gespielt hat? Gibt es jüdische Traditionen oder Rituale, die in deiner Familie bis heute lebendig gehalten werden?

CHS: Ehrlich gesagt wünschte ich, es gäbe sie. Es ist irgendwie seltsam für mich, die Nachkommin von jemandem zu sein, für den sein jüdisches Erbe eine solche Rolle spielte: Es hat ihn nicht direkt umgebracht, aber in gewisser Weise hat sich alles für meinen Großvater wegen seines Judentums verändert.

In meiner Kindheit wollte ich gern zu Weihnachten eine Menora haben. Wir hatten auch eine, aber es steckte nichts dahinter. Vielleicht hätte mein Vater sich etwas vom jüdischen Erbe zu eigen machen können. Ich denke, er hätte mehr über sein jüdisches Erbe recherchieren und seinen Kindern etwas davon mitgeben können. Aber vielleicht bin ich zu hart zu meinem Vater, denn ich glaube, dass er ein großes Trauma erlebt hat, und ich glaube, als er in die USA kam, wollte er das alles hinter sich lassen. Die kurze Antwort ist also Nein. Wir feierten Weihnachten an Heiligabend. Wir haben nie wirklich etwas gefeiert, was mit dem jüdischen Erbe zu tun hatte.

MW: Vielen Dank, Carol, dass du uns diese Einblicke in deine Familiengeschichte gegeben hast. Das ist so wertvoll. In unserer Arbeit als Provenienzforscher*innen ist es wunderbar, mit den Familien und den Erb*innen der Kunstwerke in Kontakt zu kommen. Mit dir und deiner Familie ist es eine so angenehme Zusammenarbeit. Ich danke dir sehr.

CHS: Vielen Dank auch euch! Ich mag es wirklich, mit euch beiden und mit allen, die uns kontaktiert haben, zu arbeiten. Wenn wir wieder reisen können, möchten wir gern nach Deutschland kommen, und es wäre einfach wunderbar, alle persönlich zu treffen.

MW / KL: Ja, das fänden wir auch toll.

KL: Ich möchte mich auch bei dir, Carol, für deine andauernde Unterstützung in diesem sehr langen Prozess der Recherche und Restitution bedanken.

Durch die Beiträge in deinem Blog haben wir dich und die Familie sehr gut kennengelernt und auch viel mehr über Carl Heumann erfahren. Aber wie schon gesagt, ohne die Unterstützung der anderen Provenienzforscher*innen wären wir noch nicht so weit gekommen, deshalb noch einmal ein großes Dankeschön an die anderen, die uns unterstützt haben.

CHS: Ja, auch von mir. Ihr wart alle absolut wunderbar, und es haben sich einige Freundschaften gebildet.

Ich würde gern noch von einer anderen Freundschaft erzählen. Es gab diesen Waldemar Ballerstedt in Chemnitz, von dem wir denken, dass er ein Beschützer meines Großvaters gewesen sein könnte. Man kann darüber in meinem Blog lesen.

Die Frau seines Enkels hat mir gerade eine E-Mail geschickt – ich hatte kürzlich eine Operation, und sie hat mir geschrieben: »Carol, wir denken an dich, werde gesund.«

Wir haben uns schon ein paar Mal geschrieben. Zwei oder drei Generationen später gibt es also eine Freundschaft zwischen den Nachkomm*innen eines Nationalsozialisten, der vielleicht der Beschützer meines Großvaters war oder eine Rolle dabei spielte, und uns. Das ist für mich einfach so herzerwärmend, dass wir vergeben, vergessen und weitermachen können.

MW: Ja, das ist toll zu hören. Wirklich sehr berührend.

KL: Schön! Gibt es noch etwas anderes, was du uns erzählen möchtest?

CHS: Eine Geschichte möchte ich euch gern noch erzählen.

Ich habe einen Enkel, Leo, der fast zwei Jahre alt ist. Als er noch ganz klein war, zeigten wir ihm das Bild von Sophia, ein Gemälde aus der Sammlung meines Großvaters, das immer im Haus meines Vaters hing. Es ist eine wunderschöne Frau, die nach unten blickt.

CHS: Leo schaute auf das Bild und winkte, da war er gerade acht Monate alt. Es wurde zur Tradition, dass er, wenn er in unserem Haus schlief und morgens aufwachte, als Erstes »Sophia« guten Morgen sagen wollte. Und abends bestand er darauf, »Sophia« gute Nacht zu sagen, und so haben wir das Licht auf sie gerichtet, und er hat »Sophia« gute Nacht gesagt.

Wenn er jetzt zu uns zu Besuch kommt, läuft er als Erstes zu »Sophia«, um ihr Hallo zu sagen. Für mich ist es einfach die Essenz von allem, was wir zu tun versuchen, um Carls Erinnerung und seine Geschichte für zukünftige Generationen lebendig zu halten. Einfach zu sehen, wie Leo aufschaut, während »Sophia« auf ihn herabschaut – da ist einfach diese Liebesverbindung, die ich nicht erklären kann. Aber bei den ersten Malen, als es passierte, sind mir die Tränen gekommen. In meinem Testament werde ich festhalten, dass mein Enkel Leo das Bild von Sophia bekommt, damit er es an seinen Wänden hat, wenn er erwachsen ist.

MW: Danke für diese wunderbare Geschichte.