Augenblick und Inbegriff

Von Sabine Buchmann.

Vom 21. November 2023 bis 7. April 2024 zeigte das Lenbachhaus die Ausstellung "Günter Fruhtrunk. Die Pariser Jahre (1954-1967)".
Sabine Buchmann, Malerin und frühere Studentin, Meisterschülerin und Assistentin von Günter Fruhtrunk (1973-1982) führte am 23. Februar 2024 eine Dialogführung in der Ausstellung im Lenbachhaus mit dem Titel "Augenblick und Inbegriff".

"Fruhtrunk und ich sprachen beinahe täglich miteinander und er nannte es die „Gespräche des Wandsbecker Bothen“ (Zeitschrift von Matthias Claudius / 1778 herausgegeben, die eine vom Christentum beeinflusste, vor allen Dingen aber pazifistische, zum Frieden und Geborgenheit durch die Natur, zur Nächstenliebe aufrufende Zeitschrift war, geschrieben von unterschiedlichen Dichtern, Johann Wolfgang von Goethe, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder, Matthias Claudius u.a.). 
Die scheinbar nur für sich dastehenden Gedichte und Texte in meinem Vortrag könnten nur als Dekor verstanden werden, doch sie sind Dokument aus den Gesprächen mit Fruhtrunk und Hinweise zu seiner künstlerischen Gesinnung und seinem Denken.  
Ich verfolge damit eine Vorgehensweise gleichsam der Art und Weise eines Kaleidoskops, das bei jeder Drehung sein Bild aus den gleichen Glassteinen durch die Spiegelungen verändert. Fruhtrunk gab mir sein Kaleidoskop in den letzten Tagen seines Lebens. Dies Kaleidoskop entsprach in einem Sinne seinem oft rhythmisch intuitiven Sprechen, wo variierende Themen der Dichtung, der Musik, der Literatur und der Malerei das Wesentliche waren und diese Sprünge aus Intuition empfunden und verstanden werden mussten. Hier ist nur ein kleiner Teil der unendlichen vielen Texte, über die wir sprachen, erwähnt. Fruhtrunk wollte diese als Hinweise zu seinem Empfinden der Welt verstanden wissen.   

Bevor ich zu den hier ausgestellten Bildern spreche, möchte ich einige Worte über die Zeit vor den sogenannten „Pariser Jahren“, die Zeit der vorbereitenden Impulse seines künstlerischen Weges, sagen. Dazu möchte ich einige Reproduktionen von Bildern Fruhtrunks, die zwischen 1945 bis 54 entstanden sind, zeigen.  

"Die Kohlezeichnung (Abbildung 1, in den Kriegsjahren 1944-45 entstanden) gab mir Fruhtrunk 1981-82 als Foto. Darauf ist eine Figur, ein Wanderer, in Rückenansicht, auf einem Weg, der hinauf in die Berge zu führen scheint, zu sehen. Wir sprachen, wie oft und ebenfalls zu diesem Bild über die Winterreise von Franz Schubert. Ich zitiere hier nur die erste Strophe des Gedichtes: 

Der Wegweiser 

Was vermeid' ich denn die Wege, 
Wo die andren Wandrer gehn, 
Suche mir versteckte Stege 
Durch verschneite Felsenhöhn? 
[...]
1                               

Wir sprachen im Zusammenhang mit dieser Zeichnung ebenfalls über das Gedicht von Friedrich Hölderlin, hier zitiere ich nur den letzten Teil der letzten Strophe:  

Hälfte des Lebens 

[...]
Die Mauern stehn 
Sprachlos und kalt, im Winde 
Klirren die Fahnen.
2 

Dem Gräuel des Krieges war Fruhtrunk 1944/45 als Soldat in Finnland ausgesetzt. Durch die lebensbedrohlichen Verletzungen, vor allem eine Kopfverletzung, an der er lebenslang leiden musste, wurde er immer an diese schwere gewalttätige Zeit erinnert. Fruhtrunk ist ein Überlebender des Krieges. Es war ein Wunder, dass er diese schweren Verletzungen überwunden hat. Mit den Bildern des Krieges und ihren verheerenden Wirkungen und Ausmaßen sind wir in der heutigen Zeit, zwar aus dem Abstand, doch mitleidend konfrontiert. Der Wahnsinn des Krieges: In einer seiner Zeichnungen "Mahnender über Toten (See der Toten)" (Abbildung 2, 1945), die er mich 1981/82 bat, als Siebdruck zu vervielfachen, ist dies Zeugnis.  
Nach dem Krieg Maler zu werden "Was konnte ich nach diesem Krieg überhaupt noch verlieren“3? war seine bewusste Entscheidung. Er nahm Distanz zu seinem begonnenen Architekturstudium. Unter anderem die geistige Haltung des Dadaismus bestärkte ihn zur Freiheit seiner künstlerischen Gesinnung. Hier ein Text von Hans Arp, seinem nach 1952 ihn begleitenden und unterstützenden Künstlerfreund, Dadaist: 

DADA WAR KEIN RÜPELSPIEL 

Wahnsinn und Mord wetteiferten miteinander, als Dada 1916 in Zürich aus dem Urgrund emporstieg. Die Menschen, die nicht unmittelbar an der ungeheuerlichen Raserei des Weltkrieges beteiligt waren, taten so, als begriffen sie nicht, was um sie her vorging. Wie verirrte Lämmer blickten sie aus glasigen Augen in die Welt. Dada wollte die Menschen aus ihrer jämmerlichen Ohnmacht aufschrecken. Dada verabscheute die Resignation. Wer von Dada nur seine possenhafte Phantastik beschreibt und nicht in sein Wesen, nicht in seine überzeitliche Realität eindringt, wird von Dada ein wertloses Bruchstück geben, Dada war kein Rüpelspiel.
4  

Es gibt eine Anzahl von wunderbaren Landschaftsaquarellen aus Finnland. Fruhtrunk sprach von dem Licht des Nordens. Die Landschaften haben diese einzigartige malerische Kraft und Rhythmik, Erregung der Farbe, der Natur (Malewitsch). Er war fähig aus innerster tiefer Begabung die Natur in Licht und Schatten, beinahe dramatisch darzustellen.  
Die sehr schöne Landschaft mit der weißen ins Bewegende der Natur gestellten Hausfassade ohne Fenster (Abb. 3), stammt aus den Jahren nach dem Krieg, in denen er Schüler des Malers William Straube wurde. Wilhelm Straube war für Fruhtrunk ein ganz entscheidender und unterstützender Lehrer, der Fruhtrunk das Selbstvertrauen in seine malerische Arbeit gab. William Straube war ein eher gegenständlicher Maler, der unermüdlich in großartiger Technik ausdrucksstarke Bilder, Landschaften und vor allem Portraits realisierte. William Straube war beeinflusst und Schüler von Henri Matisse und dem Maler und Farbtheoretiker Adolf Hölzel, Freund von August Macke. Durch ihn entstand das Kennenlernen Fruhtrunks der Kunst des Hemmenhofer Künstlerkreises (Erich Heckel, Otto Dix, Adolf Diedrich Kindermann, Ferdinand Macketanz). Durch William Straube lernte er Johannes Itten, Friedrich Wilhelm Baumeister, Oskar Schlemmer, Max Ackermann, Ida Kerkovius und Julius Bissier kennen, abstrakte, gegenstandslose Malerei.  

Fruhtrunk malte ein expressives Portrait von William Straube, im Hell-Dunkel-Kontrast, ein geistig wacher und ernster Ausdruck seines Lehrers. Dies Portrait stand bis zu Fruhtrunks Lebensende in seinem Arbeitsraum in der Akademie. Ganz entscheidend für Fruhtrunk war das Kennenlernen eines Hauses, in dem musiziert wurde.  William Straube war verheiratet mit einer Geigerin, sein Bruder war Organist und Thomaskantor, Musik gehörte in dieser Familie zum Alltäglichen. Dies hat Fruhtrunk zutiefst geprägt und wurde in bestimmter Weise leitender Weg seiner Kunst. Die Begegnung mit William Straube war für Fruhtrunk ein wegweisender und ermutigender Umbruch seines geistigen sensiblen Malerlebens. Nicht die Beschreibung der Dinge konnte ihm wesentlich sein, sondern aus dem Piktoralen als Solchem aus der reinen Musik/Poesie der Farbe sein lebendiges Selbst zu offenbaren.

Hier Gedanken zur Kunst von William Straube und im Anschluss ein Zitat von Fruhtrunk, die die geistige Verbundenheit der Beiden belegen: 

Den Menschen betrachten wir als den größten künstlerischen Ausdruck des Kosmos. Erweitern wir den Ausspruch, das Kunstwerk in ein Verhältnis zum Menschen bringen: Das Kunstwerk in ein Verhältnis zum Kosmos bringen. Hier ist Ziel und Wesen der Kunst in der tiefsten Bedeutung erfaßt.5  
Mein Lehrer Straube war es, der mir den Antrieb vermittelte, mir das geistige Werkzeug gab, das innere Fenster zu weiten und verkrustete Sedimente abzutragen, er schulte mein Auge zum Verständnis der Farbe.6

In diesem Umbruch nach dem Krieg waren vor 1954 bestimmte Etappen wesentlich. Man könnte übrigens sagen, dass das gesamte Werk von Fruhtrunk Etappen oder Wandlungen sind, eine schrittweise Erkenntnis und Erarbeitung seines malerischen Konzepts. In der Lenbachhaus Ausstellung kann man die Bilder geradezu als einen Weg beschreiben. Der Brief an seine Frau Annette ist Zeugnis der Geduld, die am Beginn des künstlerischen kreativen Weges gefragt ist:  

Es braucht halt alles Zeit, immer wieder Zeit, doch die arbeitet für mich, denn ich weiß, was meine Arbeit wert ist, und ich opfere gerne für das, was ich das Glück oder die Gnade habe durch mich hindurchgehen zu lassen, alles, um mehr und mehr sichtbar zu machen das Geheimnis des ewig dunkelhellen Abgrundes. Wenn ich nur immer Kraft und Urteilsvermögen, Kritik an sich selbst und damit an dem Werk behalte, und immer das Vermögen, dem All das Eine abzulauschen mit offenen Händen, dann vermag ich auch die eigenen Fenster immer weiter aufzustoßen, um Tiefblick zu erlangen.7

Das hier am Anfang der Ausstellung hängende Bild "Blauform und Gelbklang,1953/54" zeigt die ersten ungegenständlichen Formen und Farbe, die für die nächsten Jahre wesentlich wurden. Etwas vor 1953 entstanden die wichtigen Bilder, die ich als Reproduktionen zeige "Schwingungen" (Abb. 5) benannt, wo man einen Vogel entdecken könnte. In meinen Gesprächen mit Fruhtrunk sprach er viel vom Flug, von den Schwingungen wie in der Musik (siehe "Gelbklang"). Für mich ist hier die Brücke zu Kasimir S. Malewitsch und zur Musik, die sein gesamtes künstlerisches Werk fundamentieren wird, zu empfinden. Auf die Schwingungen der Töne in der Musik komme ich noch zurück.  

Die Zeit mit William Straube wurde zum Sprungbrett für die Auseinandersetzungen mit den Künstlern in Paris und fundamentalen Reflektionen der Kunst Kasimir S. Malewitsch (seine Studienaufenthalte in Paris 1951/52). Hiermit beende ich den Vorspann, um die Ausstellung mit dem Bild "Monument für Malewitsch" (1954) zu beginnen.7  
Fernand Léger, in dessen Atelier er mehrere Monate arbeitete und seine Freundschaft zu Hans Arp und dessen Frau gaben wesentliche Impulse für seine künstlerische Arbeit.

Bei Fernand Léger beeindruckte mich seine sehr vernunftbetonte Wendung zur Sache, das Zurücknehmen des Ichs vor der Aufgabe, eine gute Arbeit zu machen.8

In Gesprächen sagte Fruhtrunk, das Großformat, das Monumentale des Bildes zu bewältigen, habe er durch Fernand Léger verinnerlicht. 

Mit anderen Auseinandersetzungen war es der nachhaltige Einfluss sowohl von Léger als auch von Arp, der sich in meiner konstruktivistischen Arbeitsperiode vollzog. Er führte mich zur konkreten Kunst. Mit Arp erlebte ich von tiefer Innerlichkeit durchdrungene Klarheit, die den Traum kannte, der in die Wachheit dringt. Die für mich entscheidend werdenden handwerklichen Merkmale waren Präzision und Geduld.9

Fruhtrunk sagte in einem Gespräch, dass durch Hans Arp vor allem der Bezug zum Dadaismus und Surrealismus ihm wichtiger wurden als sein Bezug zum Konstruktivismus. Das scheint paradox, doch ist der Spannungsgrad seiner Farben bis sogar in die späten Bilder aus den musikalischen unbewussten intuitiven tonalen Rhythmen offenbart. In einem Gespräch sagte ich ihm, dass mich seine Farben an die Pittura metafisica von Giorgio Del Chirico erinnern.

Durch den Kontakt, vor allem zu den russischen Künstlern Sonia Delaunay-Terk und Serge Poliakoff und später (1957) zu den konstruktiven Künstlern der konkreten abstrakten Malerei, Victor Vasareley, Auguste Herbin, Robert Jacobsen, Richard Mortensen, Marino di Teana in der Galerie Denise Rène, war seine Auseinandersetzung mit der russischen Kunst Kasimir S. Malewitschs essenziell. Die Schriften von Kasimir S. Malewitsch waren Fruhtrunk zum Teil bekannt. Der Bezug zur Natur und zum Kosmos bei Kasimir S. Malewitsch führte bei Fruhtrunk zu einer spirituellen Offenheit, zu einem Prozess des intuitiv kreativen und einer Freiheit, die den unmittelbaren Ausdruck in den Bildern um 1954 fand, siehe Katalog "Günter Fruhtrunk – Die Pariser Jahre 1954- 1967, Edition Lenbachhaus – 09, 2024, Seite 192 – 207". 
Ich zitiere hier einige wichtige Sätze von Kasimir S. Malewitsch zu der Natur, den Menschen und der Farbe:  

Der Mensch hat einen guten Lehrmeister -, die Natur, das heißt jene ursprüngliche Echtheit, die ihre weder sinn- noch zweckgebundene Arbeit verrichtet und sich uns ohne Ziel und Sinn offenbart.
Wir können die Natur nicht besiegen, denn der Mensch ist die Natur. Und dann will ich nicht besiegen, sondern ich will eine neue Blüte, und die Tatsache, dass ich das will, ist die Verneinung des Vorhergehenden, der allgemeinen Zusammenstellung der Kultur aus den Instrumenten der Natur, auch sie muss sich von der Vergangenheit lösen, denn sie wird mit dem Wachstum der schöpferischen Ableitungen nicht Schritt halten können. Die Kunst muss mit dem Stamm des Organismus wachsen, denn ihre Aufgabe ist es, den Stamm zu verschönern, ihm eine Form zu geben und an dem mitzuwirken, was seiner Bestimmung entspricht. 
Die Malerei ist die Farbe; sie ist unserem Organismus inhärent. Ihre Aufklärung kann heftig und fordernd sein. Mein Nervensystem wird von ihr gefärbt. Mein Gehirn ist glühend heiß und leuchtet in ihrer Farbe.10  

In der Pariser Zeit war Auguste Herbin einer der wichtigen und von Fruhtrunk sehr geschätzten abstrakten Maler mit seiner kosmischen Farbintensität, Harmonie und seiner Musikalität der Farbe und der Form. Hier ein Zitat von Auguste Herbin. 

Toute l'action de la peinture reside dans le rapport des couleurs entre elles, dans le rapport des formes entre elles, et dans le rapport entre les formes et les couleurs. [Die ganze Wirkung der Malerei liegt in der Beziehung der Farben zueinander, in der Beziehung der Formen zueinander und in der Beziehung zwischen Formen und Farben.] 11

Fruhtrunk erzählte von Auguste Herbin eine amüsante Geschichte. Auguste Herbin habe Kochtopfdeckel gesammelt, mit denen er  seine Kreise zeichnete, er meinte, die Formen seien dadurch menschlicher. Das bildnerische Vokabular Fruhtrunks (Formen und 
Elemente) besteht aus Kreisen unterschiedlicher Größe, Quadraten, Rechtecken, balkenartige ungleiche Rechtecke, Winkelformen (Bumerang), feinste Linien. Die Formen beziehen sich schwebend aufeinander und wollen sich im Raum beinahe berühren. Tiefenwirkung, Nuancen und Kontraste überlagern sich zum Teil oder sind manchmal nebeneinandergestellte Formen auf zum Teil oder sind manchmal nebeneinandergestellte Formen auf offenem transparent wirkendem Bildgrund, z.B. das "Bild ohne Titel" für Hans Arp und Margarete Hagenbach, von 1956, Katalog "Günter Fruhtrunk – Die Pariser Jahre 1954-1967, Edition Lenbachhaus – 09, 2024, Seite 199". Durch Rhythmus und Bewegung im Raum wird das Auge zum Wandern auf dem Bild eingeladen. Erst aus der Entfernung sieht man die erregende und zugleich harmonische Beziehung.

Fruhtrunk erzählte, dass er aus finanziellen Gründen in diesen Jahren, zum Teil mit Jute aus seinem Sofa oder mit Bettlaken seine Leinwände bespannen musste. Fruhtrunk sagte zu mir über diese balkenartigen Elemente oder als Bumerang geformten Elemente,"dass sind die Schlegel, die den Kreis herausdrängen.“ Der dynamische Impuls der Bilder ist die Quelle für die folgenden nur noch aus reinem Rhythmus und Farbe bestehenden Bildern.  

Die Bedeutung des Rhythmus in den Bildern von Fruhtrunk kann mit den Worten von John Anthony Thwaites gut zusammenfasst werden:  

Rhythmus ist das Prinzip, dass die Bewegung im Inneren des Atoms mit der Rhythmus ist das Prinzip, dass die Bewegung im Inneren des Atoms mit der der Rhythmus des Atmens, des Lebens, der Rhythmus vom Wachstum und Tod.12  

Für Fruhtrunk bedeutete die Arbeit an diesen Bildern eine Befreiung und gleichsam eine Auferstehung. In der Pariser Zeit, erzählte er, hörte er, mit Begeisterung, den Messias von Georg Friedrich Händel während drei Tagen ununterbrochen. Es gibt das etwas pathetisch, aber sehr schöne Buch von Stefan Zweig, was von der Entstehungsgeschichte des Messias erzählt. Dieses Werk entstand nach der lebensbedrohlichen Erkrankung von Georg Friedrich Händel. War es eine Identifikation von Fruhtrunk, als ein Überlebender mit Georg Friedrich Händel?  
Wichtige Hinweise, wie Fruhtrunk es nannte, gab er durch bestimmte Texte von Musikern, in denen deutlich wird, dass die schöpferische Kraft verbunden ist mit einem existenziellen Bewusstsein. Ein anderer wichtiger Bezug für Fruhtrunk zur Musik war die Schöpfung von Joseph Haydn. Der Beginn der Welt, das Werden der Welt mit dem Ausruf des Chores „[...]und es werde Licht“. Folgender Text von Joseph Hayden steht für das Schöpferische des Künstlers: 

[...] Es gibt hinieden so wenige der frohen und  
zufriedenen Menschen, 
überall verfolgt sie Kummer und Sorge, 
vielleicht wird deine Arbeit bisweilen eine Quelle, 
aus welcher der Sorgenvolle
oder der von Geschäften lastende Mann  
auf einige Augenblicke seiner Ruhe und seine  
Erholung schöpfet.
Dies war dann ein mächtiger Beweggrund, vorwärtszustreben, 
und dies ist die Ursache, daß ich auch noch jetzt  
mit seelenvoller Heiterkeit auf die Arbeiten zurückblicke,  
die ich eine so lange Reihe von Jahren 
mit ununterbrochener Anstrengung und Mühe 
auf diese Kunst verwendet habe.
13

Ebenfalls ein wesentlicher Hinweis von Fruhtrunk waren die Texte von Yehudi Menuhin zur Musik und dem Widerstand durch die  schöpferische Arbeit, die ich später im Buch "Worte wie Klang in der Stille" wiederfand:  

Musik ist Leben. Sie ist Schwingung, sie hält uns als Teil eines schwingenden Kosmos in Verbindung mit der Gesamtheit des Alls. Wenn sie diese Aufgabe hat, dann muss sie uns zu diesem inneren Gleichgewicht verhelfen, dem Gleichgewicht zwischen Intuition und Bewusstsein. Zwischen dem Unterbewussten und dem Bewussten zu vermitteln hat alle große, gute Musik gedient [...]. Es muss zuallererst etwas entzündet werden. Ich bin in meinem Kopf schon gegen eine ganze Reihe von ideologischen Wänden gerannt, aber die Erfahrung hat mich nicht davon überzeugt, dass die Musik vor der Unversöhnlichkeit der Menschen kuschen muss, oder dass der Musiker nur dumpf vor sich hin fiedeln darf, während die Welt in Flammen steht.14

Ob es in der Musik, Poesie, Philosophie oder Literatur seine Wurzeln hat, es ist der Widerstand, die Motivation, die Gesinnung im künstlerischen Schatten. Fruhtrunk formuliert dies in Bezug auf Auguste Herbin und seine eigene Kunst folgendermaßen:  

Bilder von Auguste Herbin heißen z.B. "Nein", oder "Mitternacht". Ihre kristallinen Ordnungen ließen mich derentwegen nie Geometrie sehen. Gesteigerte oder verhaltene Farbenglut, auch deren Eisigkeit, überstrahlen solches Zeughaus, dem sich Elementares nicht einfügt. In meinem Bild "Nocturne" lässt der Schwebezustand an Ahnungsvollem, von fahlem Kreislicht und grünen Akzenten, den Gedanken an funktionales Agieren gerade nicht zu. "Dieses täuschte Leben nur vor, statt Leben zu schaffen" (Hans Arp). Gegen die Stärke der falschen Schwäche und ihres verfugenden Verfügungswillens spricht das Bild und gegen eingeschränktes Verstehen, einen Konstruktivisten prägen zu suchen, somit uneingestanden Verhalten mit Gehalt zu verwechseln. Dem könnte unwiderstehlich folgen, dann Gehalt beliebig noch auf bare Münze zu beugen, der die wissenschaftlichen Streifenbildungen entsprechen. Gegen diese bedenkliche Legalität ist "Nocturne" gebildet. Seine gründende Substanz, aus nächtlicher Verhüllung, beschneidet sich überdies auch nicht im ausbalancierten Schwebezustand, in der formalen Gegebenheit seiner "harmonischen Konstellation". Gerade das wesentliche Moment der bedrohlichen Intention der Täuschung ist es in dieser Konstellation, wodurch überhaupt jenes Moment erst zur Wirkung heraustreten kann; ganz ohne intentionales Machen nicht von Idee her determiniert.15

In den folgenden Bildern etwa ab 1961 der aktuellen Ausstellung hier im Lenbachhaus verschwinden die "Malewitschen" Formelemente zu reiner Licht- und Rhythmus-Struktur. Von entscheidendem Einfluss war die Musik von Johann Sebastian Bach. Fruhtrunk hörte sehr präzise die unterschiedlichen Strukturen der Musik. Wie auch in vielen seiner Bilder, kommen die Titel aus dem Vokabular der Musik, z.B. "Blau-Grün-Klang", "dynamische Geometrie", "steigende Rhythmen in Gelb", "Intervalle", "Kadenz-Geld-Rot-Violet", "Grüne Intervalle", "Orgelpunkt", "Kantus firmus". Musik ist wesentlich zum Verständnis der Malerei Fruhtrunks. Der Ton, der die Musik macht, entsteht durch Schwingung. Farbtöne sind ebenfalls Schwingungen, die im Auge stattfinden. Man kann die Bilder geradezu mit Begriffen aus der Musiktheorie beschreiben (Tonstufen, Intervalle, Zusammenklänge, Vibrato, Akkorde, Tonreihen, Rhythmus und Dynamik, Phrasierungen, Kontrapunkt, Takt, Rhythmus, Modulation, Variation, Dreiklang, Polyphonie, Kanon, Suite,...).  
Ganz intensiv war die Beschäftigung Fruhtrunks mit der Musik von Johann Sebastian Bach. An dieser Stelle möchte ich nochmals betonen, dass in der Interpretation der Bilder von Fruhtrunk, von einem Bild zum anderen Bild, es nicht um Serien handelt, sondern es sind Variationen wie in der Musik. Es ist ebenfalls ein Missverständnis von Streifen zu sprechen, denn es sind Farbbahnen oder Vektoren, also in Bewegung oder Schwingung befindende Farb- und Lichtpräsenzen. Mit Fruhtrunk hörte ich unterschiedliche Interpretationen, z.B. sprachen wir über das wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach, welches zum Hören Lernen geschrieben war, also ein Übungsbuch von Johann Sebastian Bach und dennoch ein Meisterwerk ist. Bei Fruhtrunk ist 
es von Bild zu Bild ein Lernprozess des Sehens, Beispiele dazu, die Bilder, welche die Titel "Sehübung" (1966) oder "Sehebenen" (1968) tragen. Es geht immer um den Prozess des eigenen Sehens (Katalog "Günter Fruhtrunk – Die Pariser Jahre 1954-1967,Edition 
Lenbachhaus – 09, 2024, Seite 247 und 251). 

Die Architektonik der musikalischen Werke konnte Fruhtrunk genau heraushören, dies hatte mit dem Prozess der Seherfahrung 
zu tun. Ich zitiere hier aus einem 1982 verfassten Text von Fruhtrunk "Individuum – Zeit – und Zukunft":  

In jeder Gegenwart also gibt es ein aktuelles zurückhaltendes Vorbei, das heißt, das Zurückhalten genau, das heißt, das Zurückhalten der Nachwirkung des Vorbei. Es bleiben quasi sonore Spuren. Stellen sie sich eine Stimmgabel vor, die sie an ihr Ohr halten und gehen sie diesem Ton nach. Ich sage deswegen Ton, weil die Immaterialität sich besser eignet als Materialität, die dann der Beobachtung des Auges unterliegt. Wiederum, eine ganz andere Erfahrung ist, als die unmittelbare Erfahrung im Sehen, beispielsweise von Farbe.16

Igor Markevitch gehörte zu den von Fruhtrunk sehr geschätzten Dirigenten, der sich über seine Erfahrungen zum Hören im Sehen und Sehen im Hören geäußert hat:  

Perspektiven des Gehörs 

Ich hatte eine Form zu entwickeln, an der der Mythos so intim haftet, dass Bedeutung und Struktur sich gemeinsam entwickeln würden. Was mein inneres Ohr durch seine Poesie bezaubert hatte, musste orchestrale Wirklichkeit werden, sich also an das äußere Ohr wenden. Diese Verwandlung stellte ein echtes Abendteuer dar, das mich zwang, meine Auffassung über die Musik zu vertiefen und manchmal in Frage zu stellen.  
Mehr als je zuvor wurde mir klar, wie sehr wir komplexe Architekturen aufbauen aus Tönen, von denen wir fast nichts wissen. Da jeder Ton in Wirklichkeit eine vollständige Welt ist, mit einer Unzahl verschiedener Obertöne, gleicht das Hören jeder Note einem Kometen, der den Himmel erhellt durch den Weg, den er erhellt. Für das Ohr bildet eine Musik das Aufeinanderfolgen, die Konstellation und das Durcheinander von klanglichen Kometen. Die Aufmerksamkeit wird jedoch vor allem durch die Linienführung und die Architektur beansprucht, die die Töne in unserer Empfindung aufbauen, was mich zu der Überlegung führte, dass der Ton selbst eine noch nicht genügend entfaltete Rolle im musikalischen Genuss spiele. Seit meinen "drei Bienen" weiß man, wie sehr ich mich im Hören geübt hatte. Um die Natur des Tones zu entdecken, war ich also dafür ausgerüstet, mit dem Ton der Natur zu beginnen. So erweiterten sich meine Kenntnisse über das Tonverhalten. Meinem Auge taten sich ungeahnte Möglichkeiten der Beteiligung auf. Es half der Arbeit des Ohres, indem es den Raum erforschte und die Dinge darin genauer ortete als das Ohr. Durch diese Zusammenarbeit der beiden Sinne hörte die Umwelt auf, ein Dekor zu sein, und ich könnte nicht sagen, was die größeren Fortschritte machte, das Ohr in der Ortung, oder das Auge im Hören. Das Ergebnis meiner Entzifferungsbemühungen war, dass die Töne aufhörten, eine Fremdsprache darzustellen und mich mit ihrem Mechanismus vertraut machten. So mit der Bewegung der Dinge identifiziert, zog ich aus ihnen Prinzipien und Eindrücke, die sich ansammelten, im Hinblick auf musikalisches Keimen.
17 

Ich möchte einige Musiker, die Fruhtrunk hörte und besonders schätze, hier nennen:  
Clara Haskil; Dinu Lipatti; Wanda Landowska; David F. Oistrach; Pablo Casals; Janet Baker; Maria Stadler; Otto Klemperer; Paul Baumgartner; Helmut Walcha; Alexander Schneider; Michel Corboz; Walter Gieseking; Kathleen Ferrier; Igor Markevitch; August Wenzinger; Yehudi Menuhin; Werner Krenn; Ralph Kirkpatrick; Paul Tortelier; Rudolf Serkin; Eugene Istomin; Fritz Wunderlich; Hans Hotter; Vladimir Horowitz; Eugen Jochum; Franz Konwitschny; Rene Jacobs. 

Ich empfehle als Beispiel die sechste englische Suite von Johann Sebastian Bach anzuhören und dabei im Sehen der Bilder das Vokabular der Musik und der Bilder Fruhtrunks aufzunehmen und so ihre Erfahrung zu vertiefen.  
Dichtung und Poesie und die philosophischen Auseinander-setzungen begleiteten Fruhtrunk in seinem ganzen Schatten. Nur einen ganz kleinen Teil aus dem immensen Wissen und aus der Liebe Fruhtrunks zur Dichtung und Poesie kann ich hier erwähnen. Philosophie war nicht etwa ein Denken, aus dem er seine Schöpfungen der Bilder hervorbrachte, sondern sie war eher ein Versuch die existenziellen Empfindungen und Gedanken zu fundamentieren. Hier füge ich einige wenige Beispiele an. 

Hier zitiere ich den Freund Fruhtrunks, Dichter und Kunsttheoretiker Eugen Gommringer:

schweigen schweigen schweigen 
schweigen schweigen schweigen 
schweigen                   schweigen
schweigen schweigen schweigen 
schweigen schweigen schweigen
18

fliegt
                    strömt entgegen
fliegt 
                    breitet sich aus
fliegt
                    umhüllt
fliegt
                    verdünnt sich
fliegt             
                    löst sich auf
fliegt
18

ungerade  
uberechenbar  
ungelenk 
nicht zu beurteilen 
fraglich 
authentisch 

Tatsachen  
Erfahrungen 
Meinungen  
Ansichten  

Niedrigwasser 
Geröll 
Eisenbahngeräusche
Doppelfenster  

Entfernungen 
Richtungen
Richtungen  
Berichtigungen
18 

Ich zitiere hier ein kurzes Gedicht von Paul Celan aus dessen großem Werk. Fruhtrunk las immer wieder die Gedichte von Paul Celan und dessen Widerstehen gegen eine Welt der Gewalt und der Verfolgung und für eine individuelle Freiheit war ihm wesentlich. 

Fadensonnen 
über der grauschwarzen Ödnis. 
Ein baum- 
hoher Gedanke  
greift sich den Lichtton; es sind 
noch Lieder zu singen jenseits  
der Menschen.
19  

Hier nochmals ein Gedicht von Hans Arp (Dadaist), den ich bereits zuvor erwähnt habe:

Das Leben ist ein rätselhafter Hauch, und die Folge daraus 
Kann nicht mehr als ein rätselhafter Hauch sein
(Wegweiser)
20

Ich möchte meinen Beitrag beenden mit dem Gleichnis von Dschuang Dsi "Die Zauberperle", das für Fruhtrunk ein Beispiel für 
das Intuitive im Menschen war. 

Die Zauberperle 
Der Herr der gelben Erde wandelte jenseits der Grenzen der Welt. Da kam er auf einen sehr hohen Berg und schaute den Kreislauf der Wiederkehr. Da verlor er seine Zauberperle. Er sandte Erkenntnis aus, sie zu suchen, und bekam sie nicht wieder. Er sandte Scharfblick aus, sie zu suchen, und bekam sie nicht wieder. Er sandte Denken aus, sie zu suchen, und bekam sie nicht wieder. Da sandte er Selbstvergessen aus. Selbstvergessen fand sie. Der Herr der gelben Erde sprach: "Seltsam fürwahr, dass gerade Selbstvergessen fähig war, sie zu finden!"
21 

Das Selbstvergessen könnte man hier mit Intuition gleichsetzen. Intuition in der Kunst: In der Musik ist es Intuition des Rhythmischen und der Töne, in der Malerei ist es Intuition des Rhythmischen und des Farbtones, in der Dichtung ist es Intuition des Rhythmischen und des Wortes. In der Philosophie ist es Intuition der Existenz? 

Quellenverzeichnis

Wilhelm Müller, Die Winterreise und Die schöne Müllerin, Diogenes, 1991, Seite 39
Lyrische Signaturen, Walter Urbanek (Hg.), c.c. Buchners Verlag, Bamberg, 1960, Seite 167
Günter Fruhtrunk, Werkverzeichnis der Bilder 1952-1982, Band Volume 1, Silke Reiter, Günter Fruhtrunk Gesellschaft, Hatje Cantz Verlag, 2018, Seite 83
4 Hans Arp, Unsern täglichen Traum, Verlag der Arche, Zürich, 1955, Seite 20 
Kunst am See, William Straube, Verlag Robert Gessler, 1981, Seite 46  
Günter Fruhtrunk, Werkverzeichnis der Bilder 1952-1982, Band Volume 1, Silke Reiter, Günter Fruhtrunk Gesellschaft, Hatje Cantz Verlag, 2018, Seite 84  
7 Günter Fruhtrunk, Frühe Bilder, 1950-54, Brief aus Paris vom 17.-20. Dezember 1954 an seine erste Frau Annette Fruhtrunk,
   Katalog Städtisches Museum Freiburg, Museum für Neue Kunst, 1993, Seite 3 
8 Günter Fruhtrunk – Die Pariser Jahre 1954-1967“, Edition Lenbachhaus -09, Herausgegeben von Susanne Böller und Matthias Mühling, 2024, Seite 195
9  Eugen Gomringer/Max Imdahl/ Gabriele Sterner/ mit Beiträgen von Maurice Besset/Günter Fruhtrunk/Dieter Honisch/Jürgen Wissmann, FRUHTRUNK, Josef Keller Verlag, 1978,      Seite 57-64
10 K. Malévitch, De Cézanne au Suprématisme, Jean-Claude et Valentine Marcadé, l’Age d’Homme, Lausanne, Suisse,1974, persönliche Übersetzung des Originaltextes
11 aus Dokumenten von Sabine Buchmann
12 Aus Dokumenten von Sabine Buchmann: Günter Fruhtrunk 1923 – 1982, Retrospektive, Westfälisches Landesmuseum Münster, Text zu seiner Malerei, 1975, Einladungskarte der Ausstellung 
13 Dokumente von Sabine Buchman: Geschenk von Günter Fruhtrunk: (Joseph Haydn an Assessor K. 1802, Joseph Haydn, Die Schöpfung, Irmgard Seefried, Walter Ludwig, Hans
    Hotter, Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks/München 1952/Eugen Jochum, MELODRAM
14 Yehudin Menuin, Worte wie Klang in der Stille, Herder Verlag, 1993, Seite 67–68
15 Eugen Gomringer, Max Imdahl, Gabriele Sterner, mit Beiträgen von Maurice Besset, Günter Fruhtrunk, Dieter Honisch, Jürgen Wissmann, FRUHTRUNK, Josef Keller Verlag, 1978, Seite 58
16 Aus Dokumenten von Sabine Buchmann, 1982 
17 Igor Markevitch, Musik der Zeit, Dokumentationen und Studien I, Josef Heinzelmann, Boosey&Hawkes, Musikverlage Bonn, 1982, Seite 28
18 Konkrete Poesie, Anthologie von Eugen Gomringer, Philipp Reclam, Stuttgart, 972, Seite 58 und Seite 54; Seite 67
19 Paul Celan, Ausgewählte Gedichte, Bibliothek Suhrkamp, 1977, ab Seite 113
20 Hans Jean Arp, Ich bin in einer Wolke geboren, Gedichte, Mitteldeutscher Verlag, 2018, Titelseite 
21 Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Diederichs, Gelbe Reihe, Seite 131