Aber hier leben? Nein danke.

Surrealismus + Antifaschismus

Aber hier leben? Nein danke.

"Die menschliche Seele ist international." (Bulletin international du surréalisme [Mezinárodní Buletin Surrealismu], Prag, April 1935)

Der Surrealismus war eine politisierte Bewegung von internationaler Reichweite und internationalistischen Überzeugungen. Seine Anfänge liegen in der Kunst und der Literatur, er reicht jedoch weit über beide hinaus. Die Wirklichkeit war für die Surrealist*innen ungenügend: Sie wollten die Gesellschaft radikal verändern und das Leben neu denken.

Schon seit ihrem Zusammenschluss in den 1920er Jahren prangerten Surrealist*innen die europäische Kolonialpolitik an, später organisierten sie sich gegen Faschisten, kämpften im Spanischen Bürgerkrieg, riefen Wehrmachtssoldaten zur Sabotage auf, wurden interniert und verfolgt, flohen aus Europa, fielen im Krieg. Sie schrieben Poesie, feilten an der Dekonstruktion einer vermeintlich rationalen Sprache in einer vermeintlich rationalen Welt, arbeiteten an Gemälden und kollektiven Zeichnungen, fotografierten und collagierten, realisierten Ausstellungen. Der "armseligen" Vorstellungswelt der Tagespolitik verwehrten sie Einlass in ihre Kunst.

Die Regierung und Besatzung durch faschistische Parteien in mehreren Ländern Europas wie auch die Welt- und Kolonialkriege prägten den Surrealismus und zwangen die Leben seiner Protagonist*innen in unvorhersehbare Bahnen. Zugleich ergaben sich so erstaunliche Begegnungen und internationale Solidarisierungen, deren Verbindungslinien von Prag nach Coyoacán in Mexiko-Stadt, von Kairo ins republikanische Spanien, von Marseille nach Fort-de-France auf Martinique, von Puerto Rico und Paris nach Chicago und zurück reichten. Surrealistisches Denken und Handeln fand damals und findet heute an mehreren Orten gleichzeitig statt. Statt als didaktische, lineare Erzählung wird die Ausstellung daher in verschiedene Episoden strukturiert, angeordnet ähnlich einer Landkarte. Ziel ist es, den Surrealismus als die streitbare und international vernetzte Bewegung sichtbar zu machen, als die ihn seine Vertreter*innen verstanden haben.

Innerhalb ihrer Kunst bestanden die Surrealist*innen auf einer absoluten "Freiheit", die den Rest der Gesellschaft anstecken sollte. Unter Freiheit, einem belasteten Begriff, der unter verkehrten Vorzeichen auch damals schon von den Faschisten bemüht wurde, verstand der Surrealismus ein Zusammenleben, das nicht von Lohnarbeit getaktet war und in dem es größere gemeinsame Ziele als Nation und Profit gab. Sie kritisierten die Verkümmerung der Vorstellungskraft in einer Gesellschaft, für die Kunst und Poesie zu exzentrischen Tätigkeiten geworden waren. "Wenn jemand uns sagt, unsere Gegenwart habe ganz andere Sorgen im Kopf, als Gedichte zu schreiben, antworten wir: 'Wir auch!'", schrieb ein Mitglied von La Main à plume, einer Gruppe, die im besetzten Paris in der Résistance kämpfte und Gedichtbände veröffentlichte.

Nicht zuletzt aufgrund dieser wesentlichen, aber offenen Beziehung zwischen Kunst und Politik beriefen sich spätere Bewegungen immer wieder auf den Surrealismus: Als Methode, die sich oft ganz selbstverständlich mit emanzipatorischen Anliegen verbindet, wurde er zum Beispiel während der 1968er-Proteste und von Vertreter*innen der Black Liberation aufgegriffen. Die Ausstellung am Lenbachhaus sieht sich als Bündelung von Versuchen, einen immer noch eng definierten und politisch verharmlosten surrealistischen Kanon zu revidieren und die Frage neu zu beantworten: Was ist Surrealismus?


Mit Werken und Texten von: Manuel Álvarez Bravo, Art & Liberté, Die Badewanne, Enrico Baj, Georges Bataille, Hans Bellmer, Erwin Blumenfeld, Victor Brauner, André Breton, Claude Cahun und Marcel Moore, Leonora Carrington, Aimé Césaire, Suzanne Césaire, Chicago Surrealists, Laura Corsiglia, Jayne Cortez, Roberto Crippa, Robert Desnos, Óscar Domínguez, Gianni Dova, Paul Éluard, Max Ernst, Erró, Esteban Francés, Eugenio Granell, Groupe Octobre, John Heartfield, Jindřich Heisler, Jacques Hérold (geb. Herold Blumer), Kati Horna, Pierre Jahan, Ted Joans, Germaine Krull, Erich Kahn, Marion Kalter, Wifredo Lam, Heinz Lohmar, Jean-Jacques Lebel, Dyno Lowenstein, Dora Maar, René Magritte, La Main à plume, André Masson, Roberto Matta, China Miéville, Lee Miller, Joan Miró, Amy Nimr, Wolfgang Paalen, Ronald Penrose, Pablo Picasso, Antonio Recalcati, Ré Soupault, Jindřich Štyrský, Yves Tanguy, Karel Teige, Toyen, Raoul Ubac, Remedios Varo, Wols


Kuratiert von Stephanie Weber, Adrian Djukić, Karin Althaus
Kuratorische Mitarbeit: Johannes Michael Stanislaus

Zur Ausstellung erscheint die Publikation "Surrealismus + Antifaschismus. Anthologie" in separaten deutschen und englischen Ausgaben.
Herausgegeben von Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München – Karin Althaus, Adrian Djukić, Ara H. Merjian, Matthias Mühling, Stephanie Weber
Hatje Cantz Verlag, 600 Seiten.

Anlässlich der Ausstellung richtet die New York University am 14. Und 15. November 2024 eine Tagung aus. Programm und Anmeldung finden Sie hier

In der Veranstaltungsreihe „Durch die Ausstellung mit…“ geben die Kurator*innen Einblicke in ihre Arbeit und sprechen über einzelne Künstler*innen, Werke und historische Zusammenhänge der Ausstellung. Hier geht es zu den Terminen.
 

Mit freundlicher Unterstützung des Förderverein Lenbachhaus e.V.

Wandtexte (PDF)

Informationen zur Barrierefreiheit (PDF)

zum Beitrag in Capriccio / BR

Medienpartner

Stimmen

„Diese Ausstellung arbeitet gegen das Klischee vom weltfremden durchgeknallten Surrealisten. Sie zeigt die Vielfalt einer Kunstbewegung und deren politische Geschlossenheit – medienübergreifend, zwischen Meisterwerk und Manifest. Und sie ist eine Warnung, was passiert, wenn Faschisten die Macht übernehmen: dann ist nicht nur die Kunst in Lebensgefahr.“

Julian Ignatowitsch, Deutschlandfunk Kultur

„‘Aber hier leben? Nein danke.‘ ist eine durch und durch kompromisslose Ausstellung, radikal tief, übervoll und klar, und so aktuell und wichtig, wie eine Kunstausstellung nur sein kann.“

Julie Metzdorf, Bayern 2

„Die in 14 Kapitel gegliederte, facettenreiche Ausstellung mit viel bislang wenig bekanntem Material zeigt, dass der Surrealismus keine homogene, zeitlich begrenzte, von Paris aus gesteuerte Bewegung war, sondern unterschiedlichste Gruppierungen umfasste. Gruppierung in Prag und Kairo, Verbindungen zu Martinique und Mexiko. (…) Die Münchner Ausstellung zeigt nicht nur Werke von Max Ernst und Picasso, Miró und Magritte von Óscar Domínguez und Leonora Carrington, Lee Miller oder Dora Maar, sie liefert auch den Subtext dazu. Eine packende Geschichte von Widerstand, Verfolgung und Exil, von Freiheitskampf und bürgerlicher Revolte.“

Wolfgang Seibel, ORF

„Alle, die beim Wort Surrealismus (…) genervt sind (…), sollten jetzt unbedingt ins Lenbachhaus nach München fahren und dort die frisch eröffnete Surrealismus-Ausstellung sehen. Fans des Surrealismus sowieso, nicht nur wegen der aus dem Ausland geliehenen Bilder von Pablo Picasso, Leonora Carrington und Victor Bauner. Zum 100. Geburtstag des surrealistischen Manifests von André Breton bebildert diese Ausstellung einen wichtigen Aspekt, der zu lange vergessen wurde: Der Surrealismus war eine antifaschistische Bewegung.“

Tobias Timm, Die Zeit

„Zu den Verdiensten der faktenreichen, überraschenden und sorgfältig recherchierten Schau 'Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus und Antifaschismus' im Münchner Lenbachhaus (...) gehört ein rekonstruiertes Architekturmodell dieses luftigen Pavillons von 1937, in dem damals auch andere Künstler wie Joan Miró sowie zahlreiche Fotografinnen und Fotografen ausstellten.“

Kia Vahland, Süddeutsche Zeitung

„Der Titel der Ausstellung deutet neben der Kühnheit der Ausstellungsmacher*innen schon ein paar Dimensionen dieser Ausstellung an. (…) Hier findet man viele spannende Episoden, nicht nur Malereien, Zeichnungen oder Filme, sondern auch verblüffende geschichtliche Momente (…). Man kann sehen, was die Künstler*innen geschaffen haben, aber auch einfach nur, dass sie Kunst geschaffen haben. Und dass es offenbar nicht möglich war, diese Freiheit in den Köpfen auszurotten, die sich immer wieder gegen diese Zeit und diese Macht einen Weg gebahnt hat. Und dieser Mut ist bemerkenswert und macht klar, Widerstand war und ist immer möglich. Aber die Wahrheit ist auch, nicht alle haben ihn überlebt.“

Tobias Krone, Deutschlandfunk Kultur

„Die [Ausstellung] in München blickt auf die politische Dimension der Bewegung, die sich ab den Zwanzigerjahren als Lebenskunst gegen die gesellschaftlichen Strukturen entwickelte. (…) Dass sie überhaupt möglich ist, verdanken die Kuratoren Stephanie Weber, Adrian Djuldc und Karin Althaus den vielen weltweiten Institutionen und Privatsammlern, die diese genreübergreifenden Arbeiten aus Literatur, Theater, Kabarett, Fotografie, Malerei über all die Jahrzehnte bewahrt und dafür gesorgt haben, dass sie nicht verloren gehen, die dahinterstehenden Geschichten. Und was für Geschichten das sind! Man sollte sich viel Zeit nehmen, um sie alle in Ruhe zu erfassen.“

Katja Kraft, Münchner Merkur

„Das Münchner Lenbachhaus steigt in diesen Reigen [der Ausstellungen zum Surrealismus] ein, allerdings mit einem ungewöhnlichen Drall: Wie lässt sich surrealistische Kunst politisch lesen? Inwiefern entspringt sie dem politischen Widerstand? Und: Wie reagiert Kunst auf autoritäre Politik?“

Hedwig Kainberger, Salzburger Nachrichten

„Dass der Surrealismus aber ein viel weiter zu fassendes Konzept ist, das in unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen in den letzten einhundert Jahren auf der ganzen Welt tiefe Spuren hinterlassen hat und dabei hochrelevant geblieben ist, zeigt die aktuelle Ausstellung 'Aber hier leben? Nein danke.' im Kunstbau des Lenbachhaus eindrucksvoll.“

Quirin Brunnmeier, gallerytalk

"Das Lenbachhaus bietet derzeit eine erhellende und motivierende Ausstellung zum Thema Surrealismus [...]. [...] das Münchner Kurator*innenteam interessierte sich nicht für die gängigen Blockbuster wie schmerzende Uhren und Hummer-Telefone, vielmehr arbeitete es ebenso überraschend wie überzeugend den politischen und kollaborativen Aspekt dieser bedeutenden internationalen Bewegung heraus, die die Gesellschaft radikal verändern wollte. Das Klischee einer abgehobenen eskapistischen Kunstelite wird gründlich demontiert [...]"

Jolanda Drexler, Kunstforum

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Ausstellungsfilm: Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus + Antifaschismus

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