Wer war Marianne Schmidl?
Leben, Geschichten und Schicksal hinter den Kunstwerken
Heute, am 8. April 2020, findet zum zweiten Mal der Tag der Provenienzforschung des Arbeitskreises Provenienzforschung e.V. statt. Diesmal möchten wir den Tag zum Anlass nehmen, die individuelle Perspektive eines Nachkommens von Dr. Marianne Schmidl (1890–1942) einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Marianne Schmidl war die erste promovierte Ethnologin Wiens und Urenkelin des Künstlers Friedrich Olivier. Ab 1938 wurde sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt und finanziell ausgeplündert. Die zunehmenden antijüdischen Repressalien zwangen sie im April 1939 schließlich dazu, Kunstwerke aus Familieneigentum versteigern zu lassen. Auf dieser Auktion hat das Lenbachhaus zwei Zeichnungen der Künstlerbrüder Friedrich und Ferdinand Olivier aus der Sammlung von Marianne Schmidl erstanden.
Eine lebensrettende Flucht war der 51-jährigen Marianne Schmidl, nicht zuletzt aufgrund fehlender finanzieller Mittel, nicht mehr möglich. Im April 1942 wurde sie nach Polen, in das Ghetto Izbica, deportiert. Ihr weiteres Schicksal und das genaue Datum ihres Todes sind nicht bekannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie 1950 für "tot erklärt". In Gedenken an Marianne Schmidl und in Würdigung ihrer Person hat der Verein "Stein der Erinnerung" im Juni 2017 einen Gedenkstein vor ihrem letzten Wohnhaus in der Eichendorffgasse 7 in Wien verlegt.
In Kenntnis des verfolgungsbedingten Entzuges der beiden Kunstwerke und in Anerkennung des persönlichen Verfolgungsschicksals Marianne Schmidls hat das Münchner Kulturreferat gemeinsam mit dem Lenbachhaus die zwei Zeichnungen an ihre rechtmäßigen Nachkommen im Oktober 2019 restituiert. Weitere Museen – die Albertina in Wien, die Kupferstichkabinette Berlin sowie Dresden, die National Gallery of Art in Washington und die Kunsthalle Hamburg – konnten in den vergangenen Jahren ebenfalls faire und gerechte Lösungen mit den Nachkommen Marianne Schmidls finden.
Im Gespräch erzählt Johann Schiller, einer der Großneffen Marianne Schmidls, über seine Großtante und spricht darüber, wie sich die Erforschung der Familiengeschichte auf ihn ausgewirkt und wie die eigene Familie den Rückgabeprozess von Kunstwerken aus den musealen Sammlungen erlebt hat.
Ihre Großtante Marianne Schmidl muss ja als erste promovierte Ethnologin Wiens eine sehr emanzipierte Frau gewesen sein. Welche Geschichten über sie haben sich in Ihrer Familie überliefert?
Sehr viele Geschichten haben sich in unserer Generation nicht überliefert. Das liegt vermutlich daran, dass die Beziehung unserer Mütter, Hildegard und Notburga, zu ihrer Tante dem Vernehmen nach, eine nicht sehr enge war. Darüber hinaus lebten die Nichten aufgrund des traumatisierenden Geschehens der Deportation und Ermordung Mariannes bis Kriegsende in ständiger Angst einer möglicherweise sie treffenden Verfolgung, war ihnen doch bewusst, dass ihre Mutter Franziska, die Schwester Mariannes (sie starb 1925) das gleiche Schicksal erlitten hätte. Über Marianne wurde in unserer Generation nicht viel gesprochen, gleichwohl wurde das Thema nicht tabuisiert.
Erzählt wurde gerne, dass Karl Wolf (später unser Großvater) von Marianne, die damals Mathematik und theoretische Physik in Wien studierte, zu den Hausbällen in der Villa der Familie Schmidl eingeladen wurde. Dort lernte er Franziska kennen, die er später heiratete.
Marianne wechselte die Studienrichtung und studierte Ethnologie. In diesem Fach promovierte sie 1915 mit der Promotionsschrift: “Zahlen und Zählen in Afrika“. Karl Wolf, so wurde öfters mit Schmunzeln berichtet, brachte als Naturwissenschaftler nur wenig Verständnis für die Wahl dieses Themas auf. Gesprochen wurde in der Familie gelegentlich auch über Mariannes wissenschaftliche Untersuchungen über das Korbflechten in Afrika, die sie über einen langen Zeitraum intensiv betrieb. Im Familienbesitz befindet sich ein Exemplar eines sogenannten „Afrikanischen Spiralwulstkorbs“. Die Untersuchung über die Herstellung dieser Art von Körben ist das zentrale Thema von Mariannes Hauptwerk: “Afrikanische Spiralwulstkörbe".1
Zu den Erzählungen über Marianne gehören die Berichte unserer Mütter über die großen Bemühungen unseres Großvaters Karl Wolf, Dokumente aufzufinden, die Marianne vor der Deportation gerettet hätten. Die Eingaben Mariannes und Karl Wolfs blieben ohne Erfolg. Dies findet erschütternden Ausdruck in der Entscheidung vom 16. Mai 1939, mit der Mariannes Antrag auf "rechtliche Gleichstellung mit jüdischen Mischlingen ersten Grades" abgelehnt wird. Sie galt somit als "Volljüdin" im Sinne der nationalsozialistischen "Rassengesetze".
Eine wehmütige Episode aus Mariannes Leben beschreibt der österreichische Kunsthändler, Kunstsammler und Autor Christian M. Nebehay in seinen Erinnerungen.2 In Vorbereitung der Auktion in Leipzig bei C. G. Boerner bringt Marianne die Blätter der Sammlung Schmidl zur Begutachtung zu Nebehay. Dieser ist von den Zeichnungen begeistert und begleitet die Versteigerung. Nebehay schließt seinen Bericht über jenen Vorgang mit der Bemerkung: "Jenes ältliche Fräulein (Marianne war damals 48 Jahre alt!, Anmerkung Johann Schiller) aber habe ich niemals wiedergesehen. Sie hat...es... nicht für nötig gefunden, mich noch einmal aufzusuchen."
War die Familiengeschichte und das Schicksal von Marianne Schmidl in Ihrer Familie bekannt? Wie hat sich das Wissen über das Leben und Schicksal von Marianne Schmidl auf Ihre Familie ausgewirkt?
Die Familiengeschichte und das Schicksal von Marianne Schmidl waren bekannt. Viel haben wir jedoch dazugelernt durch die Verbindung mit Frau Dr. Katja Geisenhainer, die bei Verfassen ihres Buches "Marianne Schmidl (1890–1942). Das unvollendete Leben und Werk einer Ethnologin" von 2005 mit Mitgliedern der Familie, insbesondere mit den Nichten Hildegard und Notburga eingehend gesprochen hat.
Das Wissen über das Leben und Schicksal von Marianne Schmidl, neben anderen Aspekten der Familiengeschichte, bestimmte das Bewusstsein und die Gespräche über unsere teils jüdische Herkunft. Die Gespräche berührten unter anderem auch die Frage nach der Bedeutung der Tatsache, dass Mariannes Vater, Josef Schmidl und Großvater mütterlicherseits Adolf Friedmann zum Protestantismus konvertierten.
Ihre Familie hat in den letzten Jahren Kunstwerke aus verschiedenen Museen zurückerhalten: Welche Bedeutung hat die Restitution dieser Kunstwerke für Sie und Ihre Familie?
Die Restitutionen der Werke aus der Sammlung Schmidl führten dazu, dass sich einige der Erben mit dem Schicksal Mariannes und der Familiengeschichte mütterlicherseits eingehend auseinandersetzten. Mir stellt sich insbesondere die Frage, ob es richtig ist, Marianne Schmidl auf dem Stolperstein als "Jüdischen Menschen" zu bezeichnen. Unter dem Gesichtspunkt einer religiösen Definition des Judentums hätte Marianne sich wohl nicht als solchen bezeichnet. Gleichwohl gelten in Israel auch säkulare Menschen als Juden. Das israelische Einwanderungsgesetz ist großzügig: "Jeder, der in der Welt als Jude verfolgt wird, sollte in Israel Zuflucht finden können."3 Mich überzeugt dieser Gedanke und ich bin daher einverstanden mit der gewählten Form des Gedenkens an Marianne Schmidl. Die Kontakte mit den restituierenden Museen und insbesondere die Gespräche mit den befassten Provenienzforscherinnen haben bei mir ein nachhaltiges Interesse an den Zeichnungen, wie sie in der Schmidl Sammlung vertreten waren, geweckt.
Wie wünschen Sie sich, dass die gewonnenen Forschungsergebnisse im Museum dokumentiert und präsentiert werden?
Die Fälle von verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern und die dazu gewonnenen Forschungsergebnisse sollten in einer dafür zuständigen Abteilung gebündelt und verwaltet werden. Die Ergebnisse, Methoden und der Zweck der Provenienzforschung sowie die normativen Grundlagen – insbesondere die Washingtoner Prinzipien – könnten in Sonderausstellungen oder als kleine Dauerpräsentation der Öffentlichkeit vorgestellt und näher gebracht werden.
Johann Schiller, Großneffe von Dr. Marianne Schmidl, im Gespräch mit Sarah Bock, wissenschaftliche Mitarbeiterin, die das Sammlungsarchiv und die Provenienzforschung am Lenbachhaus leitet.
1. Marianne Schmidl: Afrikanische Spiralwulstkörbe, in: Katja Geisenhainer: Marianne Schmidl (1890–1942): Das unvollendete Leben und Werk einer Ethnologin, Leipzig 2005, S. 265–356.
2. Christian M. Nebehay: Das Glück auf dieser Welt. Erinnerungen, Wien 1995, S.72–77.
3. Gil Yaron: Jerusalem: Ein historisch-politischer Stadtführer, München 2007, S.41.