Werktext
Der Blaue Reiter suchte nach Inspirationsquellen in der Kunstproduktion "anderer", bisher unvertrauter Kulturen. In abseits von westlichen Traditionen entstandenen Werken glaubten die Künstler*innen jene unverfälschte, ausdrucksstarke Bildsprache verwirklicht, die ihren Vorstellungen von Erneuerung und Innovation entsprach. Die russische und bayerische Volkskunst lieferte wichtige Anregungen für Wassily Kandinsky und Gabriele Münter, ebenso ihre 1904 unternommene Tunisreise. Franz Marc und August Macke rezipierten vorübergehend Stilelemente aus der japanischen Kunst. Daneben beschäftigte sich Macke mit imaginären orientalistischen Bildwelten aus dem arabischen und osmanischen Raum sowie mit indigenen Kulturen Nordamerikas. In der Vorstellung vom Exotischen spiegelt sich die Sehnsucht nach einer Flucht aus der eigenen Zivilisation ebenso wie eine Suche nach dem "Ursprünglichen" und "Natürlichen". Die sich darin äußernde Auffassung, dass die Kulturen indigener Menschen "weniger entwickelt" seien, galt sodann als Rechtfertigung für die geopolitische und wirtschaftliche Expansion der Kolonialmächte. Befeuert wurde diese Sichtweise durch Romane, Fotos, Reiseführer, Ausstellungen und kommerzielle Spektakel wie die zahlreichen "Völkerschauen", in denen Personen aus kolonisierten Ländern auf erniedrigende Weise zur Schau gestellt wurden. Auch die Künstler*innen des Blauen Reiters projizierten ihre jeweiligen Sehnsüchte und Vorstellungen auf das "Andere": Ihr Blick auf die Kulturen, mit denen sie sich aufrichtig zu befassen meinten, war nicht unvoreingenommen und muss im Zeitkontext gesehen werden.
Wandtext aus der Ausstellung "Der Blaue Reiter. Eine neue Sprache" im Raum "Blick auf das 'Andere'", 2024
Wandtext aus der Ausstellung "Der Blaue Reiter. Eine neue Sprache" im Raum "Blick auf das 'Andere'", 2024