Werktext
Im Laufe des Jahres 1911 fassten Wassily Kandinsky und Franz Marc, deren Sonderrolle in der 'Neuen Künstlervereinigung München' sich immer mehr zeigte, den Plan zu einem Kunstalmanach, für den sie wenig später den Namen "Der Blaue Reiter" fanden. Hier sollten ausschließlich Künstler – Maler, Schriftsteller und Musiker – aus dem In- und Ausland zu Wort kommen, um die Ziele einer neuen Kunst zu formulieren. Erstmals werden in moderner Weise Werke aus unterschiedlichen Bereichen und Epochen in einer vergleichenden Gegenüberstellung miteinander konfrontiert, um zu beweisen, dass das "eigentlich Künstlerische", so Kandinsky, "nicht eine Frage der Form, sondern des künstlerischen Gehalts ist".
Für das Titelbild auf dem Einband dieses Almanachs schuf Kandinsky in rascher Folge insgesamt elf Entwürfe, von denen sich zehn im Besitz des Münchner Lenbachhauses befinden. Beinahe alle zeigen einen triumphierend nach oben sprengenden Reiter, über seinem Haupt auf ausgestreckten Armen ein flatterndes Tuch – in seinem vorwärtsdrängenden Elan ein Symbol für die sieghafte Kraft des Geistes. Für die endgültige Fassung löste sich Kandinsky jedoch von diesen Versuchen und entschied sich für eine Darstellung, die in sprechender, eingängiger Symbolik die Intentionen des Buches zum Ausdruck bringt. Auf dem letzten Aquarellentwurf für den Titelholzschnitt des Almanachs erscheint die Figur eines bewaffneten Reiters mit den Merkmalen des hl. Georg, des christlichen Drachentöters, der als Überwinder des Bösen und Befreier gilt. Auf hoch steigendem Pferd sitzt der schildbewehrte Ritter mit merkwürdigem Kopfputz, unter ihm windet sich der Drache, dessen schuppiger Schwanz die Rückenlinie des Reiters hoch steigt. Vorn rechts wendet sich die gefesselte Figur der Prinzessin aus der biblischen Legende dem Befreier entgegen.
Formal verrät die Figur deutlich den Einfluss der volkstümlichen Hinterglasmalerei, die Kandinsky und seine Gefährten in den Murnauer Jahren entdeckten. Ein mit dem Entwurf für den Almanach-Titel fast identisches Hinterglasbild Kandinskys, das ebenfalls der Sammlung des Münchner Lenbachhauses angehört, belegt diesen Zusammenhang auf schlagende Weise. Die Gestalt des hl. Georg, mit der sich Kandinsky 1911 und 1912 in verschiedenen Formen nachhaltig beschäftigt hat, ist hier zwar weitgehend in das traditionelle ikonografische Schema des christlichen Heiligen gefasst, doch transportiert sie in ihrer eigenwilligen Stilisierung und spirituellen, blauen Färbung weit mehr als etwa das volkstümliche Hinterglasbild "St. Georg I" eine universale Bedeutung. Als 'Blauer Reiter' wird er zum Symbol einer Erneuerungsbewegung, die für die Überwindung und Erlösung der im Materialismus erstarrten Welt durch die reinigende Kraft des Geistes kämpft. Diese Heilsbotschaft einer neuen Epoche, an der die Künste und die gesamten kulturellen Äußerungen der Zukunft ihren Anteil haben würden, verkündet der Almanach vielfach. Der 'Blaue Reiter' wurde zum Sammelnamen der Bewegung, als Ende 1911 Kandinsky, Marc und ihre Weggenossen die 'Erste Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter' organisierten.
Werktext aus: Friedel, Helmut; Hoberg, Annegret: Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München. Prestel Verlag, 2007.
Für das Titelbild auf dem Einband dieses Almanachs schuf Kandinsky in rascher Folge insgesamt elf Entwürfe, von denen sich zehn im Besitz des Münchner Lenbachhauses befinden. Beinahe alle zeigen einen triumphierend nach oben sprengenden Reiter, über seinem Haupt auf ausgestreckten Armen ein flatterndes Tuch – in seinem vorwärtsdrängenden Elan ein Symbol für die sieghafte Kraft des Geistes. Für die endgültige Fassung löste sich Kandinsky jedoch von diesen Versuchen und entschied sich für eine Darstellung, die in sprechender, eingängiger Symbolik die Intentionen des Buches zum Ausdruck bringt. Auf dem letzten Aquarellentwurf für den Titelholzschnitt des Almanachs erscheint die Figur eines bewaffneten Reiters mit den Merkmalen des hl. Georg, des christlichen Drachentöters, der als Überwinder des Bösen und Befreier gilt. Auf hoch steigendem Pferd sitzt der schildbewehrte Ritter mit merkwürdigem Kopfputz, unter ihm windet sich der Drache, dessen schuppiger Schwanz die Rückenlinie des Reiters hoch steigt. Vorn rechts wendet sich die gefesselte Figur der Prinzessin aus der biblischen Legende dem Befreier entgegen.
Formal verrät die Figur deutlich den Einfluss der volkstümlichen Hinterglasmalerei, die Kandinsky und seine Gefährten in den Murnauer Jahren entdeckten. Ein mit dem Entwurf für den Almanach-Titel fast identisches Hinterglasbild Kandinskys, das ebenfalls der Sammlung des Münchner Lenbachhauses angehört, belegt diesen Zusammenhang auf schlagende Weise. Die Gestalt des hl. Georg, mit der sich Kandinsky 1911 und 1912 in verschiedenen Formen nachhaltig beschäftigt hat, ist hier zwar weitgehend in das traditionelle ikonografische Schema des christlichen Heiligen gefasst, doch transportiert sie in ihrer eigenwilligen Stilisierung und spirituellen, blauen Färbung weit mehr als etwa das volkstümliche Hinterglasbild "St. Georg I" eine universale Bedeutung. Als 'Blauer Reiter' wird er zum Symbol einer Erneuerungsbewegung, die für die Überwindung und Erlösung der im Materialismus erstarrten Welt durch die reinigende Kraft des Geistes kämpft. Diese Heilsbotschaft einer neuen Epoche, an der die Künste und die gesamten kulturellen Äußerungen der Zukunft ihren Anteil haben würden, verkündet der Almanach vielfach. Der 'Blaue Reiter' wurde zum Sammelnamen der Bewegung, als Ende 1911 Kandinsky, Marc und ihre Weggenossen die 'Erste Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter' organisierten.
Werktext aus: Friedel, Helmut; Hoberg, Annegret: Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München. Prestel Verlag, 2007.