Der wilde Mann von Paul Klee

CC BY-NC-SA 4.0
Paul Klee, Der wilde Mann, 1922, 43

Details

Datierung
1922, 43
Objektart
Zeichnung / Arbeit auf Papier
Material
Bleistift, Ölpause, Aquarell, Gouache auf Gipsgrundierung, auf Gaze, auf Papier
Maße
58,6 cm x 38,8 cm
Signatur / Beschriftung
u. r.: Klee; auf dem Untersatzkarton u. l.: S. Cl.; auf dem Untersatzkarton u. Mitte: 1922/43 Der wilde Mann
Ausgestellt
Nein
Inventarnummer
AK 14
Zugang
Leihnahme
Creditline
Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Dauerleihgabe der Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München
Zitiervorschlag / Permalink
Paul Klee, Der wilde Mann, 1922, 43, Bleistift, Ölpause, Aquarell, Gouache auf Gipsgrundierung, auf Gaze, auf Papier, 58,6 cm x 38,8 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Dauerleihgabe der Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München, © CC BY NC SA
https://www.lenbachhaus.de/entdecken/sammlung-online/detail/der-wilde-mann-30030874
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Werktext

"Der wilde Mann" macht die schematisch gezeichnete Figur eines gehörnten männlichen Wesens im Harlekinkostüm durch die Gewalt entgegengesetzter Triebe, in den Pfeilen drastisch veranschaulicht, zur hilflosen Marionette. Auf dem unruhigen Kreidegrund, in den durch eine Mischung von Farbpulver und Leimwasser alle Farben fleckig eingesogen sind, wird seine Figur im Spannungsfeld der Kräfte wie ein Hampelmann auseinander gezogen. Aus seinem gehörnten Kopf, über den ein durchsichtiger Schleier fällt, zielen breite braune Pfeile nach oben, Zeichen der Besessenheit des Denkens, aber auch des psychischen Verlangens. Aus seinen stieren Augen schießen kleinere Pfeile nach beiden Seiten, erneut die Unvereinbarkeit verschiedener Begierden deutlich machend. Das hodensackähnlich herabhängende Kinn mit dem gekräuselten Bart bildet ein Zentrum seiner Gestalt, ebenso die roten und schwarzen Pfeile, die aus seinem Geschlecht nach unten stoßen. Das "Urmännliche", das Klee einmal als "bös, erregend, leidenschaftlich" beschrieben hat, steht hier in ohnmächtigem Konflikt zwischen seinen Trieben und ihrer Kontrolle, zwischen unten und oben, ähnlich wie bereits der "Held mit Flügeln" auf der frühen Radierung von 1905, der trotz Aufwärtsstrebens durch dunkle Mächte und 'Gebrechen' an die Erde gefesselt war.

In nur wenigen Bildern hat Klee den Pfeil so offensiv als sexuelle Metapher eingesetzt. Auch in den Blättern "Der Pfeil" von 1920 (Kunstmuseum, Bern) oder "Analyse verschiedener Perversitäten" (Centre Georges Pompidou, Paris), in denen nach Art von Max Ernst der durch sexuelles Verlangen verhexte menschliche Körper wie in einem Laboratorium seziert wird, symbolisiert der Pfeil sexuelles Verlangen und Aggression. Die Tendenz zur Überschreitung des Gegebenen, auch des Energiezuwachses, die im Zeichen des Pfeils verkörpert ist, erläutert Klee in einer grundlegenden Passage seines "Pädagogischen Skizzenbuches": "Der Vater des Pfeils ist der Gedanke: Wie erweitere ich meine Reichweite dorthin? … Die ideelle Fähigkeit des Menschen, Irdisches und Überirdisches beliebig zu durchmessen, ist im Gegensatz zu seiner physischen Ohnmacht der Ursprung der menschlichen Tragik. Der Widerstreit von Macht und Ohnmacht ist Zwiespältigkeit menschlichen Seins. Halb Beflügelter, halb Gefangener ist der Mensch." Aber der Pfeil ist auch eine kleine Utopie: "Je weiter die Reise, desto empfindlicher die Tragik, nicht schon zu sein … Die Erkenntnis, dass da, wo ein Anfang, nie eine Unendlichkeit. Trost: ein wenig weiter als üblich! als möglich?"

Angesichts der verfremdenden Montage von Figur und abstraktem Zeichen verwundert es nicht, dass die Surrealisten Klee zur Teilnahme an ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung 1925 in Paris einluden.

Werktext aus: Friedel, Helmut; Hoberg, Annegret: Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München. Prestel Verlag, 2007.