"Survival Of the Loudest?"
Gesprächsabend und Buchvorstellung
Fr, 24. Februar 2023, 18.30–20 Uhr

Die documenta als Medienereignis und künstlerische Plattform seit 1955
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1955 fand in Kassel die erste documenta statt. 2022, 67 Jahre später wurde die 15. Ausgabe der Ausstellung eröffnet. Die Ausstellung für 100 Tage galt über lange Zeit als verlässlicher Zustandsbericht über die Kunst ihrer jeweiligen Gegenwart und hat die Programmatik und die Sammlungen der Kunstmuseen der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig beeinflusst. Dabei ist sie immer auch ein bedeutender Motor der Institutionskritik gewesen: Was diskutiert, gesammelt und ausgestellt wurde, wurde und wird oft durch die documenta angestoßen. Auch in der Ausstellungsgeschichte des Lenbachhauses ist dieser Einfluss deutlich belegt. So wäre beispielsweise unser letztes Projekt, "Gruppendynamik – Kollektive der Moderne" ohne die Documenta11 von Okwui Enwezor nicht denkbar gewesen.
Heute werden die Geschichte der documenta und ihr Gründungsmythos kritisch betrachtet. Besonders die Kontinuitäten vom Nationalsozialismus bis zur jungen Bundesrepublik waren in den letzten Jahren Gegenstand der Forschung und der umfangreichen Ausstellung "documenta. Politik und Kunst" im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Auch der Status als "wichtigste Ausstellung der Gegenwartskunst der westlichen Welt" wurde ihr inzwischen aberkannt. Dennoch ist die documenta bis heute in all ihrer Widersprüchlichkeit eines der interessantesten Ausstellungsprojekte, das sich durch wechselnde kuratorische Teams auszeichnet. So hat sich die documenta trotz aller Krisen als Institution etabliert und durch die Definition neuer Ansprüche, Aufgaben und Strategien immer wieder aktualisiert.
Die wohl eindringlichsten Beispiele für die Wechselwirkung zwischen documenta und gesellschaftspolitischem Kontext sind die Reaktion der studentischen Reformbewegungen im Jahr 1968 mit der 4. documenta (1968), die geopolitischen Umwälzungen in der Sowjetunion und deren Einflussbereich mit der documenta X (1997), die Terroranschläge vom 11. September 2001 mit der Documenta11 (2002), der Krieg in Afghanistan mit der dOCUMENTA (13) (2012) oder die Austeritätspolitik der Europäischen Union sowie die Auswirkungen des Krieges in Syrien mit der documenta 14 (2017). Kuratieren heißt im besten Sinne eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Ästhetik und politischer Relevanz. Schon die erste documenta hatte mit ihrer Auslegung zur Nachkriegsordnung, dem Ost-West-Konflikt, eine Stoßrichtung vorgegeben, aus der die deutschen Museen ihre Agenden in den folgenden Jahren ableiteten. Unabhängig also davon, wie stark die documenta-Ausstellungen kritisiert wurden oder werden, ist es offensichtlich, dass der Einfluss auf die Museen – direkt oder mit zeitlicher Verzögerung – weitreichend war und ist. Es scheint fast offensichtlich, dass Museen ihre Kontinuität dazu nutzen konnten, die vielfache Vorreiterrolle der documenta zu reflektieren. So ist bei aller Kritik an den jeweils einzelnen Konzepten der documenta-Ausgaben doch anzuerkennen, dass die Museen durch diese Reflektion interessanter und relevanter geworden sind.
Nun präsentiert das Lenbachhaus anlässlich der documenta fifteen 2022 die Ausstellung "Was von 100 Tagen übrig blieb... Die documenta und das Lenbachhaus". Ein Parcours bedeutender Arbeiten aus allen documenta-Ausstellungen von der ersten Ausgabe 1955 bis zur 14. im Jahr 2017 dokumentiert, welche Arbeiten "von 100 Tagen" in einer musealen Sammlung sichtbar geblieben sind. Die Ausstellung zeigt am Beispiel des Lenbachhauses in München welch wirkmächtiger Resonanzkörper die documenta in der bundesrepublikanischen Museumslandschaft bis in die Gegenwart ist. Das Lenbachhaus hat bis heute eine besonders enge Verbindung zur documenta. Standen doch bereits 1955 bedeutende Kunstwerke aus dem inneren Kreis des Blauen Reiter im Zentrum des Kasseler Projektes. Gemälde wie Gabriele Münters "Stillleben in Grau" (1910), Franz Marcs "Rehe im Schnee II" (1911), oder Wassily Kandinskys "Parties diverses" (1940), sind heute diejenigen Werke, auf denen die internationale Wertschätzung der Sammlung des Lenbachhauses beruht. Auch bei der II. documenta (1959) und documenta III (1964) wurden bedeutende Werke aus der Sammlung Blauer Reiter des Lenbachhauses gezeigt. Mit Fritz Koenigs Skulptur "Großes Votiv K" (1963/64), oder Asger Jorns Gemälde "They never come back" (1958), tätigte das Lenbachhaus erste Ankäufe aus dem Segment der Gegenwartskunst der frühen documenta-Ausstellungen. Aus der politischen Ausrichtung der 4. documenta (1968) gelangte Öyvind Fahlströms großes Panorama zum Vietnamkrieg "Live Curve 2 (Snowfield)" (1967) in die Sammlung des Lenbachhauses. Von Joseph Beuys' erstem Auftritt bei der documenta zeigen wir die "Bienenkönigin I" (1947-52) aus der Sammlung Lothar Schirmer.
Bis heute wird die Strategie des Ankaufs ganzer Werkkonvolute oder -zusammenhänge von der documenta fortgeführt. So gelangte ein gesamter Raum mit "shaped canvases" von Ellsworth Kelly von der DOCUMENTA IX (1992) in die Sammlung des Lenbachhauses. Von der dOCUMENTA (13) (2012) sind es zwei bedeutende Installationen: Ceal Floyers "'Til I get it right" (2005) und Tejal Shahs "Between the Waves" (2012) sowie ein Teil von Thomas Bayrles Wandrelief "Carmageddon" (2012). Zuletzt hat die documenta 14 (2017) ihre Spuren mit Gemälden der Malerin Miriam Cahn und Skulpturen von Nevin Aladağ hinterlassen. Das Lenbachhaus ist jedoch auch Leihgeberin für die documenta gewesen: So hat die Kuratorin Catherine David für die documenta X (1997) Gerhard Richters "Atlas" (seit 1962) entliehen und im Kasseler Fridericianum programmatisch ins Zentrum ihrer Ausstellung gesetzt.
Eine These wäre also, dass die documenta großen Einfluss auf das Lenbachhaus und sicherlich auch auf die gesamte Museumslandschaft der Bundesrepublik Deutschland hatte und hat. Für das Lenbachhaus ist die Schnittmenge klar und nahezu ausschließlich durch Werke westeuropäischer und nordamerikanischer Künstler*innen ablesbar. So könnte eine weitere These lauten, dass die unterschiedlichen Themenschwerpunkte der documenta-Ausstellungen auf die deutlich enger gefassten Sammlungskonzepte der jeweiligen Museen herunter gebrochen wurden. Beispielhaft hierfür ist die Documenta11 von Okwui Enwezor. Die von ihm initiierte Öffnung zu einer Kunstproduktion aus Ländern, die bisher kaum bei der documenta vertreten waren, bildete sich in der Sammlungspolitik des Lenbachhauses lange Zeit nicht ab. Erst durch eine Schenkung im Jahr 2020 kam mit Tejal Shahs "Between the Waves" das erste "documenta-Werk" einer Künstlerin, die nicht in Europa oder den USA lebt und arbeitet, ins Haus.
Kuratiert von Matthias Mühling, Eva Huttenlauch und Dierk Höhne
Mit Werken von:
Nevin Aladağ, Marina Abramovic / Ulay, Joseph Beuys, Gianfranco Baruchello, Thomas Bayrle, Andrea Büttner, Mirjam Cahn, James Coleman, Robert Delaunay, Walker Evans, Valie Export, Öyvind Fahlström, Ceal Floyer, Rupprecht Geiger, Isa Genzken, Jochen Gerz, Gerhard von Graevenitz, Dan Graham, Gustav Hamos, Madelon Hooykaas/Elsa Stansfield, Asger Jorn, Wassily Kandinsky, Ellsworth Kelly, Imi Knoebel, Fritz Koenig, Alfred Kubin, Franz Marc, Gustav Metzger, Gabriele Münter, Olaf Nicolai, Herman Nitsch, Marcel Odenbach, Nam June Paik, Charlotte Posenenske, Gerhard Richter, Ulrike Rosenbach, Tejal Shah, Katharina Sieverding, Telewissen, Franz Erhard Walther
Kurztexte zu den documenta-Ausstellungen
Manual
Publikation
Was von 100 Tagen übrig blieb... Die documenta und das Lenbachhaus
Hrsg von Eva Huttenlauch, Dierk Höhne, Matthias Mühling
Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, 2023
240 Seiten, Deutsch/Englisch
Preis: 15 Euro
"Neongelbe Wandtexte sind im Lenbachhaus genauso wichtig wie die durchaus beachtlichen angekauften Kunstwerke. Hier werden nämlich die jeweiligen Weltausstellungen in Kassel charakterisiert. Und akribisch ausgewählte Reaktionen der zeitgenössischen Medien, vor allem der Zeitungen, zeigen, dass jede documenta zu ihrer Zeit mehr als umstritten gewesen ist."
"Das kuratorische Duo Eva Hüttenlauch und Dierk Höhne durchforsteten die eigenen Bestände nach Werken (Leihgaben und Ankäufe), die auf einer documenta zu sehen waren. Und wurden – von Marc und Münter auf der allerersten bis Nevin Aladag und Miriam Cahn auf der von 2017 – fündig. Um weder sich selbst noch das Publikum zu unterfordern, werden darüber hinaus – wie in der vorausgegangenen Schau "documenta. Politik und Kunst" im Berliner DHM – jeweilige Neuerungen und Erweiterungen des Kunstbegriffs, gesellschaftspolitische Zusammenhänge – und historische Altlasten aufgezeigt."
Thomas Bayrle
Carmageddon, 2012
Andrea Büttner
Fabric Painting (Orange), 2015
Miriam Cahn
o.T., 26.01.2003!, 2003
Albert Hien
Wand weiß, n. d.
Alfred Kubin
Der Gouverneur, 1920
Olaf Nicolai
In the woods there is a bird, 2017
Nevin Aladag
Music Room Athens, Chair Saz, 2017
Nevin Aladag
Music Room Athens, Commode Cello, 2017
Nevin Aladag
Music Room Athens, Cesve Shaker, 2017
Gianfranco Baruchello
Saranno rese note le conclusioni sulla Sciagura, 1968
Joseph Beuys
Bienenkönigin I, 1947-1952
Marina Abramovic
City of Angels, 1983
Madelon Hooykaas
a) Point of Orientation, 1986 (Kopie Nr. 21) b) Point in Time, 1987 (Kopie Nr. 15), 1986/87
Andrea Büttner
Fabric Painting (Blue), 2015
Miriam Cahn
Schönes Bild, 22.03.2013, 2013
Robert Delaunay
Fenêtres sur la ville, 1914
Walker Evans
Corner Store, Marion (Alabama) - Original, 1936
Walker Evans
Classical Revival House, Beaufort (South Carolina) - Duplikat, 1936
Walker Evans
Allie Mae Burroughs, Hale Country (Alabama) - Duplikat, 1936
Walker Evans
Wooden Church Interior (Alabama), 1936
Walker Evans
Fireplace in Floyd Burroughs' Front Bedroom (Alabama), 1936
Walker Evans
Auto Graveyard, 1936
Walker Evans
Kitchen Corner in Floyd Burroughs' House, Hale County (Alabama), 1936
Walker Evans
Fireplace in a Side Room of the Tingle House, Hale County (Alabama), 1936
Walker Evans
Hillside Houses, Bethlehem (Pennsylvania), 1935
Walker Evans
Roadside Store, between Tuscaloosa and Greensboro (Alabama), 1936
Isa Genzken
New Buildings for Berlin 1 and 2, 2003
Gerhard von Graevenitz
Schwarze Streifen auf Weiß, 1965/66
Gusztav Hamos
The Invincible, 1982/83
Wassily Kandinsky
Entwürfe zu 'Komposition VII' Auch genannt 'Zwei Skizzen aus dem Themenkreis Komposition 7 (Fragment); Blatt 10 des Skizzenbuches von Haas und Hussel, 1913
Wassily Kandinsky
Studie zur Komposition 7, 1913
Imi Knoebel
Projektion X, 1971
Alfred Kubin
Epidemie, 1900/1901
Alfred Kubin
Der Nebenbuhler, 1920
Marcel Odenbach
Die Distanz zwischen mir und meinen Verlusten, 1983
Charlotte Posenenske
Relief Serie B. Autorisierte Rekonstruktion mit Zertifikat aus dem Nachlass (CP 2011/003), 1967 - 2011
Gerhard Richter
Atlas-Übersicht, 2016
Ulrike Rosenbach
Das Feenband, 1983
Tejal Shah
Animation (Between the Waves), 2012
Tejal Shah
Moon Burning (Between the Waves), 2012
Telewissen
DOCUMENTA DER LEUTE, 1972
Nevin Aladag
Music Room Athens, Side Table Harp, 2017
Nevin Aladag
Music Room Athens, Table Bells, 2017
Nevin Aladag
Music Room Athens, Big Pot Timpani, 2017
Gianfranco Baruchello
Il giardino di Chronos, 1975
Gianfranco Baruchello
Mikrocapuozzo a Mamma, 1968
Joseph Beuys
Baumzertifikat 7000 Eichen: 4 Bäume, 1983 gestiftet von der Landeshauptstadt München, 1982
Joseph Beuys
FILZ-TV, 1970
Marina Abramovic
City of Angels; enthält außerdem: M. Abramovic, Anima Mundi, 1983
Marina Abramovic
CITY OF ANGELS, 1983
Andrea Büttner
Tent (two colours), 2012
Andrea Büttner
Benches, 2012
James Coleman
Lapsus Exposure Diaprojektion mit 3 Projektoren auf eine Leinwand und synchronisierter Tonspur (von einem Schauspieler gesprochener Text), 14. Min., 1992 - 1994
VALIE EXPORT
METANOIA Film und Videoarbeiten von 1968 bis 2010, 2011
Walker Evans
General Store, Selma (Alabama) - Original, 1936
Walker Evans
Mississippi-River Men and Ferry, Vicksburg (Mississippi) - Duplikat, 1936
Walker Evans
Roadside Stand, Vicinity, 1936
Walker Evans
Cotton Room at Frank Tingle's Farm, Hale Country (Alabama), 1936
Walker Evans
Philippsburg, New Jersey, seen from Easton (Pennsylvania), 1936
Walker Evans
Garage, Atlanta (Georgia), 1936
Walker Evans
Rear Bedroom in Floyd Burroughs' House, Hale County (Alabama), 1936
Walker Evans
Minstrel Poster Detail (Alabama), 1936
Walker Evans
Butcher's Sign (Mississippi), 1936
Öyvind Fahlström
Live Curve No. 2 (Snowfield) Oswald, 1967
Ceal Floyer
'Til I Get It Right, 2005
Jochen Gerz
RUFEN BIS ZUR ERSCHÖPFUNG, 1972
Dan Graham
Cinema Model (auf einem Sockel), 1981
Asger Jorn
They never come back, 1958
Wassily Kandinsky
Parties diverses, 1940
Wassily Kandinsky
Entwurf zu 'Komposition VII' Auch genannt 'Detailstudie zu 'Komposition 7', 1913
Ellsworth Kelly
The Documenta Room: a) Blue Panel with Curve (1991) b) Red Panel with Curve (1991) c) Green Panel with Curve (1992) d) White Panel with Curve (1992), 1991/92
Fritz Koenig
Großes Votiv K, 1963/64
Alfred Kubin
Kanalmündung II, 1911
Franz Marc
Rehe im Schnee II, 1911
Gabriele Münter
Stillleben Grau, 1910
Charlotte Posenenske
Relief Serie B. Autorisierte Rekonstruktion mit Zertifikat aus dem Nachlass (CP 2011/006), 1967 - 2011
Charlotte Posenenske
Relief Serie B. Autorisierte Rekonstruktion mit Zertifikat aus dem Nachlass (CP 2011/005), 1967 - 2011
Ulrike Rosenbach
a) Reflexionen über die Geburt der Venus (1976/78); b) Glauben Sie nicht, daß ich eine Amazone bin (1975), 1975/78
Ulrike Rosenbach
Tanz für eine Frau, 1974
Tejal Shah
Between the Waves, 2012
Tejal Shah
Between the Waves (Between the Waves), 2012
Katharina Sieverding
LIFE-DEATH, 1969/2004