Murnau mit Kirche I by Wassily Kandinsky

Details

Date
1910
Classification
Gemälde
Medium
Öl auf Pappe
Dimensions
64,7 cm x 50,2 cm
On display
No
Inventory number
GMS 59
Acquisition
Schenkung 1957
Credit line
Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Gabriele Münter Stiftung 1957
Citation / Permalink
Wassily Kandinsky, Murnau mit Kirche I, 1910, Öl auf Pappe, 64,7 cm x 50,2 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Gabriele Münter Stiftung 1957
https://www.lenbachhaus.de/en/discover/collection-online/detail/murnau-mit-kirche-i-30018804
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Werktext

"Murnau mit Kirche I" gehört zu den berühmtesten Ansichten, die Kandinsky von dem kleinen Marktflecken im bayerischen Alpenvorland schuf. In der Tat nimmt es unter den Murnauer Landschaftsbildern bis 1910 eine Sonderstellung ein, weil hier bei aller Treue zum Motiv und zur Gattung der Landschaftsmalerei die Auflösung des Gegenstandes am weitesten getrieben und eine freie Handhabung der spontan eingesetzten Farbe erreicht ist, die Kandinsky in jener Zeit auch in seinen freien "Fantasie"-Bildern anstrebte. Einzelne, die Gegenstände markierende Signale sind im Gewoge der Farben gerade noch zu erkennen, besonders der hoch aufragende weiße Kirchturm und die schemenhafte Anhäufung der Häuser links.

Einige eng verwandte Bilder, etwa "Murnau mit Kirche II" (Stedelijk Van Abbemuseum, Eindhoven), zeigen die Ansicht topografisch viel genauer und schildern mit den dunklen Höhenlinien der Berge hinter dem Kirchturm die Räumlichkeit der Landschaft noch ausführlicher. In dieser Studie evoziert lediglich die Verdichtung der Farben im Zentrum des Bildes eine gewisse Tiefe. Das dynamische Kippen der erkennbaren Elemente im steilen Hochformat des Bildes steigert zusammen mit dem lockeren Farbauftrag, der an einigen Stellen den hellbraunen Grund der Pappe durchscheinen lässt, die Lebhaftigkeit der Malerei. Welch eine überlegte unabhängige Komposition "Murnau mit Kirche I" trotz aller Unmittelbarkeit ist, wird jedoch deutlich, wenn etwa die ausgewogene Verteilung von Blau und Weiß bewusst wird.

Dieses oder ein ähnliches Bild war es vielleicht, das Kandinsky während seiner Arbeit in Murnau zu einer ebenso irritierenden wie fruchtbaren Erkenntnis verhalf: Als er eines Abends in der Dämmerung in seinem Atelier ein von ihm selbst gemaltes Bild auf die Seite gekippt stehen sah, konnte er dessen Gegenstand nicht sogleich erkennen, es kam ihm vielmehr fremd und geheimnisvoll vor. Er fühlte, dass dieser Eindruck seiner Vorstellung eines 'wahren' abstrakten Bildes nahe kam, doch ebenso wurde ihm bewusst, dass der Weg dorthin für ihn immer noch weit war. Die Überwindung der Perspektive, die Übertragung graphischer Elemente in die Ölmalerei und die Befreiung der Farbe von der Gegenstandsbeschreibung sollten für Kandinsky wichtige Etappen auf dieser Suche bilden.

Werktext aus: Friedel, Helmut; Hoberg, Annegret: Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München. Prestel Verlag, 2007.