Zur Musik von Julius Eastman

Von Isaac Jean-­François

Es ist mir eine Freude, einen Text zu den Konzerten von Julius Eastman in München beizutragen. Als dynamischer, schwarzer, queerer, amerikanischer Komponist, Per­former, Sänger und asketischer Exzentriker übersteigt Eastman mit seinem Werk die Dimensionen der klassischen, minimalistischen, Jazz-­ und Pop-Genres. Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, wie sich Eastmans Klänge zu den Werken amerikanischer Künstler*innen der Moderne und der Konzeptkunst kräuseln, etwa zu den 'elektro­chromen' Arbeiten von Dan Flavin und den gewebten Nylons von Senga Nengudi, die sich wie Haut dehnen. Die Gemälde des Blauen Reiter, vor allem die Gesichtsfigurationen von Alexej von Jawlensky, vereinen transnationale ästhetische Fragen über Körper, emotionalen Ausdruck und Farbe. Vor dem Hintergrund dieser Bilder möchte ich fragen: Wo positioniert sich Julius Eastman in seiner Musik? Wie begegnet er uns und womit begegnet er uns? Welche Fragen über unsere eigene fragile Prä­senz in der Welt tauchen in seinem unsteten und doch beharrlichen Tonarchiv auf?

Julius Eastman wurde in New York City geboren und zog bald darauf ins nördliche Ithaca, New York. Er studierte am Curtis Institute of Music in Philadelphia. In den frühen 1970er Jahren verbrachte er einige Zeit an Universität Buffalo. Damals war Eastman Mitglied des S.E.M. Ensembles (heute unter der Leitung von Petr Kotik in NYC) und der Creative Associates, beides Avantgarde-­Performance­-Gruppen von Komponisten, die sich speziell für Kunstmusik jenseits des Minimalismus interessier­ten (wie z. B. John Cage oder Harold Budd). Er reiste mit Kollegen der modernen Musikszene durch Europa; ein Teil dieses klanglichen Abenteuers hat sich in einer Zürcher Konzertaufnahme von 1980 erhalten. An seinem Lebensende pendelte Eastman zwischen Buffalo und New York City und nahm währenddessen an der Free Jazz-­ und Gay House-­Szene teil. Er starb 1990. Inzwischen wurde sein Werk wieder­belebt und hat inzwischen den Mainstream erreicht, teils dank der bahnbrechenden Forschung von Ellie Hisama (heute Dekanin am Musikinstitut der Universität Toronto), die 2014 als erste ein langes Kapitel über Eastmans Klanguniversum veröffentlichte mit dem Titel "Diving into the Earth: the Musical Worlds of Julius Eastman" (in: Rethinking Difference in Music Scholarship, hrsg. von Olivia Bloechl, Melanie Lowe und Jeffrey Kallberg).

Bei den Konzerten in München werden Werke aus seiner bedeutendsten Schaffens­periode aufgeführt. Es sind allesamt lyrische Einblicke in Kompositionen, die vor allem für Klavier und Streicher geschrieben sind, auch wenn das eindringliche "Prelude" für Singstimme bestimmt ist und "Femenine" von Vibraphon und Schlittenglocken getragen wird. Ich kann mich jedoch nicht zu sehr auf die Instrumentierung festlegen, da viele von Eastmans Partituren, darunter auch "Buddha", für "nicht näher bezeich­nete Besetzung" entstanden sind. Das ist eine Besonderheit von Eastmans Werk: Interpret*innen werden immer wieder aufgefordert, seinen künstlerischen Korpus neu zu erfinden.

Obwohl ich kein Musikwissenschaftler bin, lese ich gerne die noch in Eastmans Archiv vorhandenen handschriftlichen Partituren; ich möchte Sie ermutigen, sie nach diesen Konzerten online einzusehen. In seinem 1979 erschienenen Werk "The Com­poser as Weakling" (Der Komponist als Schwächling) wendet sich Eastman gegen das Bild vom isolierten und distanzierten Komponisten. Vor diesem Hintergrund zielt meine Beschäftigung mit der Partitur als ästhetisches Objekt darauf ab, das immense Gewicht der musikalischen Notation zu verlagern: Partituren vibrieren im Bereich des Visuellen. Ein Großteil des Hörens von Eastmans Musik wird von einer grund­legenden Suche nach disparaten Teilen eines größeren, unbekannten Ganzen an­getrieben, und ich habe mich von Ellie Hisamas Forschung dazu inspirieren lassen, Fragmente von Klang und Biografie mitzudenken.

"Femenine" ist eines der längsten erhaltenen Stücke. Als mutmaßliches Gegenstück zu dem noch nicht wiederentdeckten "Masculine" (1974) wurde es in seiner umwerfen­ den repetitiven Energie als ähnlich wie Terry Rileys "In C" (1964) beschrieben. Ob­wohl die Glocken und das Vibraphon dieselbe Phrase wiederholen (was keine leichte Aufgabe ist), gibt es viele Ansatzpunkte für die Interpret*innen, sich einzubringen und ihr Eigenes hinzuzufügen; Eastman notiert an einer Stelle "create new pattern "(erschaffe neue Figuren). Von Chris McIntyre, Direktor und Mitbegründer von TILT Brass in Brooklyn, erfuhr ich, dass Eastman seine eigenen Musikmaschinen gebaut hat. Der ursprüngliche Klang der Schlittenglocke wurde von einem von Eastman selbst entworfenen geräuschvollen Apparat erzeugt.

"Fugue No. 7", "Evil Nigger"*, "Gay Guerrilla" – allesamt Werke für Klavier, gehören zu seinen gespenstischsten Werken. Es wäre interessant, über die latenten Texte nach­zudenken, die hinter Eastmans "Fugue No. 7" in der Tradition der Alten Musik und des Barocks oszillieren könnten, mit Beispielen im Werk von Joseph Haydn und J. S. Bach. Die Kollision der Klänge an verschiedenen Stellen der "Fugue" verleiht dem verwobenen Material eine beunruhigende Schärfe. "Gay Guerrilla" und "Evil Nigger"*, berüchtigt für ihre heiß diskutierte Aufführung an der Northwestern University im Jahr 1980, gehören zu Eastmans militantesten Stücken. Über "Evil Nigger"* habe ich an anderer Stelle ausführlich geschrieben ("Current Musicology", Juli 2020), doch möchte ich betonen, dass Eastmans Fragen danach, wer und was in die klassiknahe Kunst­musiktradition (manche würden sogar sagen, den Kanon) aufgenommen werden darf, mit diesen Werken für mehrere Klaviere weiter auf die Probe gestellt werden. Beide Stücke erscheinen wie dröhnende Klangwellen mit sich wiederholenden Figuren, die sich zurückziehen und mit überwältigender Intensität wiederkehren; könnte dies eine klangliche Artikulation einer Manifestation von Rasse und der andauernden Gewalt gegen Minderheiten sein?

Gegen Ende seines Lebens wurde Eastman zu einer beinahe asketischen Figur. Sein Leben bietet zwar keinerlei Einblick in ein spirituell-religiöses Interesse, doch sein Klang ergießt sich weiterhin in eine Art ephemerer Zone. "Prelude to the Holy Presence of Joan d’Arc", für Solostimme und "The Holy Presence of Joan d’Arc", uraufgeführt während Eastmans Zeit in The Kitchen in New York City, ist ein eindringliches Werk. Das 1981 komponierte Stück ist Teil von Eastmans bemerkenswerter Zusammen­arbeit mit der Gay-­House-Musikgruppe Dinosaur L, zusammen mit anderen Werken von Arthur Russell. "Speak boldly" (Sprich kühn) erklingt im gesamten "Prelude". "The Holy Presence" für zehn Celli driftet zwischen einer fugenartigen Schichtung mehrerer Phrasen und dem Motiv eines nahenden Rettungswagens, bei dem es einem eiskalt über den Rücken läuft. Ich höre, wie die Werke mit der imaginären Distanz zwischen den Interpret*innen, alltäglichen Straßengeräuschen und einem Schicht­kuchen aus erdig klingenden Streichinstrumenten spielen. "Buddha" ist eines der letzten bekannten Stücke. Die Partitur ist ohne Tonartvorgabe geschrieben und besteht aus einem großen skizzenhaften Bild in Form eines Eies auf dem Manuskriptpapier. Das Stück verwischt die Grenze zwischen Partitur und loser experimenteller Skizze und wölbt das Papier nach innen.

Julius Eastman zuzuhören ist, als wäre man nahe am Wasser; die kühle Reichweite seiner Musik bringt Objekte, Gerüche und taktile Empfindungen in den Körper, die noch lange nach dem Hören haften bleiben. Anklänge an ein Zitat aus "Brother to Brother: New Writings by Black Gay Men", herausgegeben vom Dichter Essex Hemphill, schwingt in meinen Gedanken über Eastman und sein unvollendetes Archiv mit: "Ich habe auch unseren alten Strandball gefunden, aber ich konnte die Luft nicht rauslassen – sein Atem war darin" (Kenneth McCrearys "Remembrance"). So viel Atem bleibt in diesen Klangobjekten, die an unserem Rahmen haften, und wir müssen diesen flüchtigen, beunruhigenden und schillernden Klängen weiter zuhören.

Isaac Jean-­François ist Doktorand am Institut für Afroamerikanistik und Amerika­nistik an der Yale University.

*Hierbei handelt es sich um die Originaltitel des Komponisten. Julius Eastman legte den Begriff bewusst als rassistisch offen und machte damit insbesondere Nicht-Schwarze Menschen auf strukturellen Rassismus und verbale Gewalt aufmerksam. Wir haben uns daher entschieden, den Originaltitel von Eastman im Kontext der Aufführung seiner Werke auszuschreiben.

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