Femenine (1974)

Von Eva Huttenlauch

Julius Eastman komponierte "Femenine" für Bläser, Streicher, Klavier, Marimba/Vibraphon und Schlittenglocken. Die nur partiell ausnotierte Partitur für das ca. 70­-minütige Stück umfasst lediglich fünf Manuskriptseiten. Sie ist ein frühes Beispiel für Eastmans "organische Musik“, bei der jeder Abschnitt einer Komposition grund­ sätzlich alle Informationen der vorangegangenen Abschnitte enthält, wobei logische Auslassungen möglich sind. So baut er serielle Kompositionsstrukturen nach dem Prinzip der Wiederholung auf.

Das gesamte Werk basiert auf nur einem melodischen Baustein: einem zweistim­migen Thema auf dem Vibraphon, das aus leisem Glockenklingeln hervorgeht und das sich als sich wiederholende musikalische Figur durch die gesamte Spieldauer zieht. Glocken und Vibraphon bilden gleichsam das musikalische Skelett des Stückes. Nach und nach schließen sich weitere Instrumente an, um sich zu einer diversen Klang­textur zu akkumulieren, die Schicht für Schicht dichter wird, wobei das Klavier die grundierende Stimme bildet. Eastman setzt in der Partitur keine Takt-­ oder Tempo­vorschriften, sondern verzeichnet lediglich die Zeitdauer für die einzelnen Abschnitte, was den Musiker*innen viel interpretatorische Freiheit lässt. Für die Zeitmessung wird auf Uhren zurückgegriffen und jede*r kann selbst entscheiden, welche Okta­vierung, welche Note aus einem bestimmten Akkord gewählt wird. Taktstriche zeigen höchstens Phrasen an. Dagegen gibt es jedoch stellenweise auch konkrete Anwei­sungen wie "Der Pianist wird unterbrechen“. Der oder die Pianist*in hat außerdem einen nicht notierten Part, in dem das von den anderen Musiker*innen gespielte Material aufgenommen oder ergänzt wird. Im Sinne des Minimalimus werden aus spärlich notiertem Material größtmögliche Freiheit und Möglichkeiten herausgeholt.

"Femenine" entstand während der minimalistischen Phase von Julius Eastman, die sich von ca. 1973 bis 1981 ansetzen lässt. Als bahnbrechende Komposition enthält es auch Referenzen etwa auf Terry Rileys "In C" (1964). Aber Eastmans Musik ist um einiges widerwilliger und bewusst frech, sie sträubt sich gegen ein strenges Regelwerk, das besonders in der Minimal Music einzuhalten war. Die Uraufführung von "Femenine" fand zwei Jahre vor Steve Reichs "Music for 18 Musicians" (1974/­76) statt. Eastman verschmolz die strikten Vorgaben des taktbasierten seriellen Minimalismus mit vom Jazz beeinflusster Improvisation sowie Fluxus-­Momenten, indem er z. B. in der Ur­aufführung Autohupen einsetzte – ein ironisches Augenzwinkern mit Blick auf die strengen rhythmischen Strukturen der Minimal­-Kollegen wie Steve Reich und Philip Glass.

Es gibt den Mitschnitt einer Aufführung von "Femenine" in Albany, New York aus dem Entstehungsjahr 1974 durch das S.E.M. Ensemble sowie Student*innen der University of Buffalo mit Eastman selbst am Klavier. Dazu ist überliefert, dass Eastman darauf bestand, während der Performance Suppe zu servieren, die er selbst zubereitet hatte. Die zugehörigen Geräusche sind in der Aufnahme deutlich zu hören und erinnern an Happenings der bildenden Kunst jener Zeit. Der gesellige Gruppengeist kann als integraler Teil des Stückes verstanden werden. Erzählungen schildern ebenfalls, dass Eastman während der Performance ein Kleid trug. Dies kann in Zusammenhang mit dem Titel gesehen werden, mit dem Eastman kritisch Fragen nach Gender und Sexualität, und damit nach Identität und normativen Zwängen aufwirft. Denn alle dem Kanon zugeordneten Minimal­-Komponisten sind männlich. Sein Werk "Masculine" (1974), das Pendant zu "Femenine", ist eins von zahlreichen Werken, deren Partitur ver­loren ist. Bei konservativen Zeitgenoss*innen lösten seine Titel, die Ungezwungen­heit des Konzerts und das Tragen eines Kleides sicherlich Unbehagen aus. Unbestritten bleibt jedoch, dass es Eastman immer auch um ästhetische Fragen ging, wenn er beispielsweise über das Ende von "Femenine" sagt: "Das Ende klingt, als würden die Engel den Himmel öffnen... sollten wir Euphorie sagen?"

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