Bull’s Eye
No. 2

Die Kamera von Gabriele Münter

Von Daniel Oggenfuss.

Als Gabriele Münter während ihres Aufenthaltes bei Verwandten in Moorefield/ Arkansas im Februar 1899/1900 eine Bull’s Eye Kodak Boxkamera geschenkt bekommt, ist die Popularisierung der Fotografie durch die Massenproduktion und Verfügbarkeit dieser handlichen und kompakten Kameras schon weit fortgeschritten: So verkaufte Eastman Kodak 1896 bereits die hunderttausendste Kamera und man zählte allein in den USA um 1900 schon 99 fotografische Gesellschaften und Fotoclubs. Es überrascht deshalb nicht, dass die Fotografie damals auch in Münters amerikanischer Verwandtschaft eine Rolle spielte und bereits Teil der Dekoration ihrer Wohnräume war (Abb. 1).

Wie die meisten Boxkameras war auch die von Gabriele Münter verwendete Kodak Bull’s Eye No. 2 mit einem Gewicht von ca. 700 Gramm und den ungefähren Abmessungen von 12x12x15 cm, kompakt, leicht und handlich. Die Kamera bestand aus einem Schweins- oder Kunstleder bezogenen Holzgehäuse mit ausziehbarer Rollfilmkassette und war für Rollfilme mit jeweils zwölf oder sechs Bildern im Bildformat 3½x3½ Zoll (8,89×8,89 cm) ausgelegt. Die Optik der Bull’s Eye No. 2 bestand aus einem Fixfokus-Objektiv. Das Sucherbild war je nach Version der Kamera rund, bzw. quadratisch. Ein mechanischer Verschluss, drei Blenden mit Blendenschieber, die Anzeige für die Bildnummerierung und das Gewinde für ein Stativ komplettierten die technische Ausstattung des Apparats (Abb. 2).

Da das Wechseln des Films dank der damals neuen Innovation des Rollfilms als sog. Tageslichtpackung durch die Fotografierenden selbst jederzeit und überall vorgenommen werden konnte, waren diese nun unabhängig. Sie konnten einen der diversen Shops der Eastman Kodak Company oder sonst eine der aufkommenden fotografischen Handlungen aufsuchen, um ihr Material entwickeln und kopieren zu lassen. Man kam dort aber auch durch den Verkauf fotografischen Materials und Zubehörs dem Bedürfnis vieler Amateurfotografinnen und -fotografen entgegen, Filmentwicklung und Produktion von Papierbildern selber vorzunehmen.

Die Bedienung der Bull’s Eye war einfach. Die Kamera war für die beiden Aufnahmefunktionen "Moment" und "Zeit" ausgelegt. Für Momentaufnahmen mit kurzer Belichtungszeit wurde der mechanische Verschluss durch eine Feder ausgelöst, die nach links bzw. rechts bewegt werden konnte. Für Zeitaufnahmen wurde der Verschluss durch Betätigen eines Hebels geöffnet und mit Blick auf die Uhr nach der gewünschten Zeit auf die gleiche Weise wieder geschlossen. Mit dem Blendenschieber stellte man bei beiden Aufnahmemöglichkeiten eine der drei vorhandenen Blenden ein. Durch das Fixfokus-Objektiv war keine Entfernungseinstellung möglich. Als Mindestabstand zum Bildmotiv sind in der Anleitung zur Bull’s Eye No. 2 1 bis 1,5 m vorgegeben; näher erfasste Objekte wurden unscharf abgebildet. Der Durchmesser des runden Sucherbildes der Bull’s Eye No. 2 bezeichnete Höhe und Breite des quadratischen Bildausschnitts, d.h. die Bildecken waren durch den Sucher nicht sichtbar und mussten bei der Bildgestaltung mitgedacht werden. Das quadratische Sucherbild der Bull’s Eye No. 2 Special dagegen entsprach ungefähr dem Bildausschnitt. Mit welcher Sucher-Version Gabriele Münters Kamera ausgestattet war kann nicht mehr mit Bestimmmtheit gesagt werden. Die Kamera verfügte über keine technischen Hilfsmittel, um die Messung und korrekte Einstellung der Blenden oder der Belichtungszeiten bei Zeitaufnahmen zu überprüfen. Um gute Bilder zu erzielen musste man sich auf die vagen Angaben in der Bedienungsanleitung und vor allem auf die eigene Erfahrung verlassen (Abb. 3).

Was Münters Aufnahmetechnik und ihren Umgang mit der Kamera betrifft, geben die Fotografien selbst einige Anhaltspunkte. So dürfte der größere Teil der Außenaufnahmen spontan als Momentaufnahmen ohne Stativ entstanden sein. Darauf deuten einige Fotografien, auf denen – durch den tiefen Sonnenstand im Rücken – die Fotografin als langer Schatten in der Aufnahme zu sehen ist (Abb. 4). Auf keiner dieser Abbildungen gibt es den Hinweis auf die Verwendung eines Stativs, dafür fallen die sehr hoch gehaltene Kamera und die stark vom Körper abgespreizten Arme auf. Gabriele Münter stützte die Kamera vermutlich auf dem Brustbein ab und konnte sie dadurch gut kontrollieren und ruhig halten. Mit Sicherheit wählte sie auch aus ästhetischen Gründen nicht selten die Übereinstimmung von Blick- und Aufnahmehöhe; besonders für Porträtaufnahmen wird in den Handbüchern jener Zeit immer wieder auf die gestalterischen Vorteile dieser Haltung hingewiesen. Dass Gabriele Münter diese Aufnahmetechnik aber nicht durchgängig anwendete sondern die Kamera durchaus auch tiefer ansetzte, zeigt beispielsweise ein Gruppenbild, welches während der Rückreise auf dem Dampfer "Pennsylvania" im Oktober 1900 entstand (Abb. 5).

Ein anderes Vorgehen zeigen viele ihrer Porträtaufnahmen, die in Innenräumen oder auf Hausveranden entstanden. Die Fotografien wirken geplant und die Personen sind in eine räumliche und atmosphärische Situation "arrangiert". In Bildfolgen wird der Sitzungscharakter während der Entstehung dieser Aufnahmen sehr deutlich (Abb. 6a-c). Es gelingt Gabriele Münter aber trotzdem, ihre Modelle ungekünstelt in ihrem gewohnten Umfeld darzustellen. Aufnahmen in Innenräumen mit begrenztem Tageslicht erforderten immer Zeitaufnahmen mit Belichtungszeiten von mindestens zwei Sekunden. Um scharfe Bilder zu erhalten, war ein fester Standort oder ein Stativ deshalb unbedingt erforderlich. Durch leichte Bewegungen während der Belichtung erscheinen die Porträtierten in diesen Aufnahmen häufig etwas unscharf, unbewegliche Gegenstände dagegen zeichnen sich in der Regel in großer Schärfe und Detailgenauigkeit ab.

In einigen Porträtaufnahmen wird der Standort der Kamera deutlich. Gabriele Münter verzichtete auch hier auf ein Stativ. Stattdessen nutzte sie vorhandene Gegenstände als Standfläche oder stützte sich während der Aufnahme auf einen festen Untergrund ab. So ist im Vordergrund der Aufnahme (Abb. 6a) vermutlich die Tischplatte zu sehen, auf der sich die Kamera befand. In mehreren Bildreihen wie z. B. in der Aufnahme (Abb. 7), ist die Kamera sehr deutlich sichtbar auf einem Holzgeländer platziert. In zwei weiteren Porträts – einer lesenden Frau und dem Brustbild eines Paares (Abb. 8a-b) – ist starker seitlicher Lichteinfall bewusstes Kompositionselement der Bildgestaltung und so stark, dass durch Lichtreflexe in der Kameraoptik Lichthöfe erkennbar werden. In der Anleitung zur Bull’s Eye No. 2 wird dieses Phänomen als "Verschleierung des Bildes" beschrieben. Für Münter aber war diese technische Problematik – bewusst oder in Unkenntnis – offensichtlich nicht relevant; Atmosphäre und Komposition hatten Vorrang.

Derartige Beobachtungen zeigen Gabriele Münters Herangehensweise des Ausprobierens, die sich vor allem aus der Begeisterung für die neuen Möglichkeiten der unmittelbaren und spontanen Darstellungsmöglichkeiten ihrer Umwelt durch die Fotografie speiste. Münter ließ sich durch die technischen Grenzen ihrer fotografischen Ausstattung nicht einschränken und verzichtete auf Hilfsmittel wie Stativ o. ä. Ihr Vorgehen war primär dem learning by doing verpflichtet; von technischen Anleitungen und Konventionen, wie sie in den Ratgebern und Handbüchern vermittelt wurden, ließ sie sich kaum leiten. Zwar orientierte sie sich z. B. in einigen Porträtaufnahmen an der allgemein verbreiteten Ästhetik von Studioaufnahmen, es gelang ihr aber trotzdem, die natürliche Persönlichkeit und Umgebung ihrer Modelle auf ihre eigene Weise ins Zentrum ihrer Aufnahmen zu stellen.

Generell zeigt sich, dass die neue Einfachheit in der Bedienung von Kameras die Fotografie grundsätzlich veränderte, gleichzeitig aber, wie bei Gabriele Münter zu sehen ist, viel künstlerische Freiheit und Entwicklung zuließ. Ambitionierte Amateure und professionelle Fotografinnen und Fotografen jener Zeit beklagten sehr bald die willkürliche Produktion von Bildern durch Anfängerinnen und Anfänger. Diese Kritik erinnert nicht nur hinsichtlich des angeblichen Qualitätsverlusts an die heutige Diskussion um die digitale Bildproduktion, denn auch in der einfachen Vervielfältigung und Distribution der Bilder ähneln sich die beiden technischen Entwicklungsschübe auffallend. Aus heutiger Perspektive mögen die gegenwärtigen digitalen Umwälzungen schneller und umfassender erscheinen, jedoch bedeuteten die beschriebenen Entwicklungen am Ende des 19. Jahrhunderts möglicherweise ebenso weitreichende Veränderungen.

Daniel Oggenfuss ist Restaurator für Grafik und Fotografie am Lenbachhaus.

Veröffentlicht am 22. März 2018