Werktext
Im Spätsommer 1909 kaufte Gabriele Münter auf Wassily Kandinskys Drängen hin ein Haus in Murnau, das bald von den Einheimischen "Russen-Haus" genannt wurde . Hier erlebten sie ihre produktivste Zeit, hier begannen wenig später die lebhaften Besuche und Gegenbesuche von Franz Marc aus dem benachbarten Sindelsdorf, hier fanden 1911 die legendären Redaktionssitzungen für den Almanach "Der Blaue Reiter" statt. Dicht unterhalb des Murnauer Grundstücks führte die Bahnlinie München–Garmisch entlang, der vorbeidampfende Zug war ein täglicher Anblick.
In "Eisenbahn bei Murnau" von 1909 hält Kandinsky diesen Eindruck fest. Zusammen mit der ähnlichen, gleichzeitig entstandenen "Landschaft bei Murnau mit Lokomotive" (Solomon R. Guggenheim Museum, New York) ist es eines der wenigen Bilder Kandinskys, welche die moderne Technik zum Thema haben. Doch anders als gleichzeitige Maler, etwa des Expressionismus in Dresden und Berlin oder die französischen Impressionisten, bringt Kandinsky den vorbeifahrenden Zug wie eine verkleinerte, von Geisterhand bewegte Erscheinung ins Bild. Auffallend ist der naive, fast humoristische Zug der Darstellung. Wie eine schwarze Riesenschlange mit der spielzeughaften, eifrigen Lokomotive an der Spitze durchquert die Bahn die Landschaft. Ihre schlichte, dunkle Silhouette ist deutlich gegen die ineinander verschmolzenen Farbfelder ihrer Umgebung abgegrenzt. Das rote flackernde Sonnenlicht unter ihren Rädern, der weiße Rauch und das flatternde Tuch des winkenden Mädchens am linken Bildrand lassen den Eindruck von Bewegung entstehen; die beiden Leitungsmasten scheinen von dieser Dynamik miterfasst zu werden.
Möglicherweise ist hier ein latenter Einfluss der von Kandinsky, Münter und den anderen Künstlerfreunden neu entdeckten naiven Volkskunst und Hinterglasmalerei spürbar. Der schlichte Realismus ihrer Darstellungen widersprach dabei den Intentionen Kandinskys einer Auflösung des Gegenstandes nicht. Das "eigentlich Künstlerische" konnte in seinen Augen sowohl realistisch als auch abstrakt sein: Auch in seinem Essay "Über die Formfrage" im Almanach hält Kandinsky die "große Realistik" und die "große Abstraktion" als gleichberechtigte Pole gegeneinander und feiert dabei den naiven Maler Henri Rousseau. Ein Bild wie "Eisenbahn bei Murnau" beleuchtet die Nähe dieser scheinbar unvereinbaren Positionen.
Werktext aus: Friedel, Helmut; Hoberg, Annegret: Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München. Prestel Verlag, 2007.
In "Eisenbahn bei Murnau" von 1909 hält Kandinsky diesen Eindruck fest. Zusammen mit der ähnlichen, gleichzeitig entstandenen "Landschaft bei Murnau mit Lokomotive" (Solomon R. Guggenheim Museum, New York) ist es eines der wenigen Bilder Kandinskys, welche die moderne Technik zum Thema haben. Doch anders als gleichzeitige Maler, etwa des Expressionismus in Dresden und Berlin oder die französischen Impressionisten, bringt Kandinsky den vorbeifahrenden Zug wie eine verkleinerte, von Geisterhand bewegte Erscheinung ins Bild. Auffallend ist der naive, fast humoristische Zug der Darstellung. Wie eine schwarze Riesenschlange mit der spielzeughaften, eifrigen Lokomotive an der Spitze durchquert die Bahn die Landschaft. Ihre schlichte, dunkle Silhouette ist deutlich gegen die ineinander verschmolzenen Farbfelder ihrer Umgebung abgegrenzt. Das rote flackernde Sonnenlicht unter ihren Rädern, der weiße Rauch und das flatternde Tuch des winkenden Mädchens am linken Bildrand lassen den Eindruck von Bewegung entstehen; die beiden Leitungsmasten scheinen von dieser Dynamik miterfasst zu werden.
Möglicherweise ist hier ein latenter Einfluss der von Kandinsky, Münter und den anderen Künstlerfreunden neu entdeckten naiven Volkskunst und Hinterglasmalerei spürbar. Der schlichte Realismus ihrer Darstellungen widersprach dabei den Intentionen Kandinskys einer Auflösung des Gegenstandes nicht. Das "eigentlich Künstlerische" konnte in seinen Augen sowohl realistisch als auch abstrakt sein: Auch in seinem Essay "Über die Formfrage" im Almanach hält Kandinsky die "große Realistik" und die "große Abstraktion" als gleichberechtigte Pole gegeneinander und feiert dabei den naiven Maler Henri Rousseau. Ein Bild wie "Eisenbahn bei Murnau" beleuchtet die Nähe dieser scheinbar unvereinbaren Positionen.
Werktext aus: Friedel, Helmut; Hoberg, Annegret: Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München. Prestel Verlag, 2007.