Reh im Walde II von Franz Marc

Details

Datierung
1912
Objektart
Gemälde
Material
Öl auf Leinwand
Maße
110 cm x 81 cm
Signatur / Beschriftung
u. r.: Marc
Ausgestellt
Nein
Inventarnummer
G 13321
Zugang
Schenkung 1965
Creditline
Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Bernhard und Elly Koehler Stiftung 1965
Zitiervorschlag / Permalink
Franz Marc, Reh im Walde II, 1912, Öl auf Leinwand, 110 cm x 81 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Bernhard und Elly Koehler Stiftung 1965
https://www.lenbachhaus.de/digital/sammlung-online/detail/reh-im-walde-ii-30019618
Tags

Akkordeon öffnen oder schließen

Werktext

Bereits im April 1910 war Franz Marc endgültig nach Sindelsdorf in Oberbayern übergesiedelt und widmete sich in der Folgezeit beinahe ausschließlich der Tierdarstellung. Im Sommer 1911, nach der Rückkehr von seiner Hochzeitsreise aus London, die über eine Zwischenstation bei August Macke in Bonn geführt hatte, malte Marc eine erste Fassung von "Reh im Wald". Dieses Bild wurde im Dezember 1911 auf der ersten Ausstellung des 'Blauen Reiter' in der Galerie Thannhauser gezeigt. Im folgenden Jahr schuf Marc diese zweite Version, in der die einzelnen Formen stärker herausgearbeitet sind und die expressive Diagonale eines schwarzen Baumstamms sich quer vor die geheimnisvolle Tiefe des nächtlichen, farbenglühenden Märchenwaldes schiebt. In einer Mulde zwischen den farbigen Facetten des Waldbodens liegt zusammengekauert ein schlafendes Reh, den zurückgebogenen Kopf an den Leib geschmiegt. Eingeschlossen in die ineinandergreifenden rötlichen Segmente der nach hinten ansteigenden Senke, durch Grün im Komplementärkontrast stabilisiert, scheint die sensible Gestalt des Rehs zugleich beschützt und ausgeliefert. Nachtblau dringt der Himmel oben ins Bild, weiße Zweige wehen herab, die schwarzen Schrägen der Fichten neigen sich gegen das Tier. Besonders dieses letztere Element hat Frederick S. Levine, der die Bilder Marcs auf eine verschlüsselte apokalyptische Symbolik untersuchte, als Zeichen der Bedrohung und Gefährdung gedeutet.

Formal hat Marc besonders in dieser zweiten Fassung Anregungen des Kubismus verarbeitet, die es ihm erlaubten, die dargestellte Kreatur stärker in ihre Umgebung zu integrieren: Die Natur wird gleichsam von ihrem eigenen Mittelpunkt – mit den Augen des Tieres selbst – gesehen. Diesen Perspektivenwechsel in der Sicht der Dinge mit dem Ziel, durch das nachempfundene Sein des Tieres die Erfahrung einer unbekannten – dem menschlichen Auge verschlossenen – seelischen Dimension aufzuschließen, hat Marc in ebenso eindringliche wie frappierende Worte gefasst: "Gibt es für einen Künstler eine geheimnisvollere Idee als die, wie sich wohl die Natur in dem Auge eines Tiers spiegelt? Wie sieht ein Pferd die Welt oder ein Adler, ein Reh oder ein Hund? Wie armselig, seelenlos ist unsere Konvention, Tiere in eine Landschaft zu setzen, die unsern Augen zugehört, statt uns in die Seele des Tieres zu versetzen, um dessen Bilderkreis zu erraten." Die sanfte, versunkene Erscheinung des gelben Rehs im schwingenden Gewebe des nächtlichen Waldes vermittelt etwas von der Ahnung dieser Welt, die durch den Blick des Tieres und den Filter seiner Seele gesehen wird.

Werktext aus: Friedel, Helmut; Hoberg, Annegret: Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München. Prestel Verlag, 2007.