Die Publikationswand
des Lenbachhauses

von Ursula Keltz.

Betritt man die Ausstellung im Kunstbau, fällt der Blick linker Hand auf eine ausgedehnte Schauwand, die sich entlang der Rampe bis zu ihrem Fuß erstreckt. Quasi im Herabschreiten kann man hier assoziativ die Museumsgeschichte Revue passieren lassen. Mehr als 600 Publikationen, beginnend mit dem Sammlungsverzeichnis zur Eröffnung der Städtischen Galerie 1929, bis hin zum Katalog der Marcel-Duchamp-Ausstellung von 2012, fügen sich in chronologischer Ordnung zu einem facettenreichen Gesamtbild und zeugen von der regen Publikations- und Ausstellungstätigkeit des Lenbachhauses.


Unvermittelt bleibt das Auge an so manchem Cover hängen – sei es, dass es Erinnerungen an eine besuchte Ausstellung wachruft, berühmte Künstlernamen zeigt oder durch seine graphische Gestaltung auffällt. Unübersehbar trägt zum Beispiel der 1936 erschienene Katalog „Heroische Kunst“ die Zeichen seiner Zeit; von einer Ausstellungszeitung aus den siebziger Jahren leuchtet einem in dicken roten Lettern die Aufschrift „H.A. Schult – Unwelt“ entgegen; vielfach lassen sich die bekannten Motive der Blaue-Reiter-Künstler in den Reihen entdecken, und immer wieder wird das relative Gleichmaß von extremen Groß- oder Kleinformaten durchbrochen.


Die weitaus größte Gruppe der Veröffentlichungen bilden Ausstellungskataloge, zumeist vom Lenbachhaus selbst herausgegeben, teilweise in Kooperation mit anderen Institutionen. Ergänzt werden sie durch ausstellungsunabhängige Publikationen wie Museumsführer, Jahresberichte, Bestandskataloge und vor allem Werkverzeichnisse – ein Resultat langjähriger, intensiver Forschungsarbeit.


Bei genauerer Betrachtung verrät die Schauwand Vieles über die Museumsgeschichte im Besonderen und die Buchgeschichte allgemein. Unmittelbar augenfällig ist die Entwicklung vom schlichten Faltblatt zum opulenten, reich bebilderten Werk. Stellte in den ersten Jahren nach Gründung der Städtischen Galerie die Herausgabe einer Publikation noch eine Besonderheit dar, wurden gegen Mitte der fünfziger Jahre bereits die meisten Wechselausstellungen von zumindest kleinen Katalogen begleitet. Entsprechend umfasst der erste Block der Schauwand die Publikationstätigkeit von mehr als 25 Jahren, die weiteren Blöcke decken zum Teil nur noch 3 Jahre ab. In den sechziger Jahren verlagert sich der Schwerpunkt von den kollektiven zu monographischen Ausstellungen, die Kataloggestaltung wird allmählich aufwändiger. Der allgemeinen Entwicklung gemäß nehmen die Publikationen ab Mitte der siebziger Jahre noch einmal beträchtlich an Zahl und Umfang zu. Dass einem jungen, noch lebenden Künstler ein monographischer Katalog gewidmet wird, ist nun keine Seltenheit mehr. Während unter Armin Zweite, Direktor von 1974 bis 1990, ein einheitliches Erscheinungsbild für die „Hauskataloge“ entwickelt wurde, das sich durch die quadratische Form und die klare, gut leserliche Schrifttype auszeichnet, liegt unter Helmut Friedels Leitung der Akzent auf einer sehr individuellen, dem jeweiligen Thema angemessenen Gestaltung. Ein Beispiel dafür sind die DIN-A6-formatigen Kataloge zur Ausstellungsreihe „Dialoge der Zeichnung“, die mit ihrem festen Karton und der Fadenheftung an kleine Skizzenbücher erinnern, ein anderes die extravagante großformatige Publikation zur Eröffnung des Kunstbaus 1994, dessen Cover Dan Flavins zu diesem Anlass entwickelte Lichtinstallation reflektiert. Auf mattschwarzem Grund leuchten entsprechend den Neonröhren vier Streifen in Grün, Blau, Gelb und Pink, die von einer schwarzen Kreisform – der Rotunde im Kunstbau – unterbrochen werden.


Nicht nur optische Wandlungen sind an der Schauwand ablesbar. Sie gibt auch Aufschluss über Kontinuität und Neuakzentuierung in der Sammlungs- und Ausstellungspolitik. Über mehrere Jahrzehnte lag der Fokus, dem ursprünglichen Sammlungsauftrag gemäß, auf der Münchener Kunst. In der unmittelbaren Nachkriegszeit fallen zahlreiche Kataloge zu den sich hier neu formierenden Künstlergruppen auf, denen der damalige Direktor, Arthur Rümann, bewusst ein Forum bot. Unter seinem Nachfolger Hans Konrad Roethel erfolgte eine einschneidende Zäsur, die sich seither in zahlreichen Publikationen zum Thema „Blauer Reiter“ manifestiert. Ausgelöst wurde diese Neuausrichtung durch die Schenkung Gabriele Münters 1957 und die Bernhard-Koehler-Stiftung 1959. Sie begründeten die umfangreiche Blaue-Reiter-Sammlung, die das Lenbachhaus schlagartig international berühmt machte. Wie die Katalogtitel seit Mitte der siebziger Jahre zeigen, setzte Armin Zweite wiederum einen neuen Akzent mit der Ausweitung des Spektrums auf die internationale Gegenwartskunst, die seither den dritten Schwerpunkt des Hauses bildet. Repräsentativ für seine Amtszeit ist die zweiteilige Veröffentlichung zu Joseph Beuys‘ Werk „zeige deine wunde“, dessen Ankauf durch das Lenbachhaus 1979 heftig umstritten war. Band 2 der 1980 erschienenen Publikation versammelt eine Vielzahl von Stellungnahmen und überliefert so die aufschlussreiche Ankaufshistorie der Nachwelt. Unter Helmut Friedels Leitung ist insbesondere die intensive Forschungsarbeit am Museum hervorzuheben. Seit 1990 entstanden bei Weitem die meisten Bestandskataloge und Werkverzeichnisse. Zu nennen sind etwa der erste Sammlungskatalog zur Gegenwartskunst im Lenbachhaus „Das Gedächtnis öffnet seine Tore“ von 1999 oder das grundlegende dreibändige Werkverzeichnis zu Franz Marc, erschienen 2004-2011, dem langjährige, aufwändigste Recherchen zugrunde liegen.


Im Gegensatz zu den übrigen wechselnden Exponaten bleibt die Publikationswand bis zum Ende der Ausstellung unverändert erhalten – ein Konzentrat aus 83 Jahren Museumsarbeit, das Sammlung und Ausstellungen spiegelt und die gewonnenen geistigen Erkenntnisse tradiert.

Dr. Ursula Keltz arbeitet seit 2001 als Leiterin der Bibliothek in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus.