Digitales Symposium Histories of Ecology

mit Museu de Arte de São Paulo (MASP)

Wann:
Mi, 9. November 2022, 15–20.30 Uhr

Kostenlos

Hulda Guzmán, Come Dance? Asked Nature Kindly, 2019-20, Sammlung MASP, Schenkung von Rose Setubal und Alfredo Setubal, im Rahmen der Ausstellung "Histories of Dance" 2020
Foto: Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und von Alexander Berggruen
Hulda Guzmán, Come Dance? Asked Nature Kindly, 2019-20, Sammlung MASP, Schenkung von Rose Setubal und Alfredo Setubal, im Rahmen der Ausstellung "Histories of Dance" 2020 Foto: Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und von Alexander Berggruen

Wann:
Mi, 9. November 2022, 15–20.30 Uhr

Kostenlos

In Hulda Guzmáns Gemälde "Come Dance? Asked Nature Kindly" (2019–20) finden sich Menschen, Tiere und Pflanzen zusammen, um genau dies zu tun: zu tanzen. Schäferhunde gesellen sich zu Königsgeiern, nackte Tänzer*innen zu solchen in Cluboutfits. Eine überbordende Landschaft umgibt die eigenwillige Schar. Die geografisch und individuell unterschiedlichen und doch weltweit geteilten Erfahrungen von Natur und Ökologie stehen im Zentrum der Veranstaltung "Histories of Ecology".

Gemeinsam mit dem Museu de Arte de São Paulo (MASP) veranstaltet das Lenbachhaus ein digitales Symposium mit der Fragestellung, was Ökologie – künstlerisch, politisch, logistisch, kunsthistorisch – für Museen und Künstler*innen bedeuten kann.  

Der Begriff der "histories" ist – im Gegensatz zur Historie – offener, vielstimmiger und weniger final: Er steht sowohl für die Geschichtsschreibung als auch für das Spinnen von Erzählungen, die Entstehung von Mythologien und die Bedeutung von persönlichen Erlebnissen. Mit der Teilnahme von Referent*innen aus Kunst, Theorie, politischem Aktivismus und den Naturwissenschaften zielt das zweitägige Seminar darauf ab, Debatten und Forschungen über ökologische Fragen in Verbindung mit den Geistes- und Naturwissenschaften sowie künstlerischen und kuratorischen Praktiken zu fördern.

Teilnehmer*innen: Brigitte Baptiste, Chico Mandira, Filipa Ramos, Gabriel Mantelli, Jaime Vindel, Judy Chicago, Nego Bispo, Rachel O'Reilly, Stefanie Hessler, Steve Kurtz, Txai Suruí, Vandana Shiva.
Die Kurzbiografien aller Teilnehmer*innen finden Sie auf der Veranstaltungsseite des MASP.

Organisiert von:
Adriano Pedrosa, Künstlerisches Leiter, MASP
André Mesquita, Kurator, MASP
David Ribeiro, Kuratorischer Assistent, MASP
Isabella Rjeille, Kuratorin, MASP
María Inés Rodríguez, Adjunct curator of modern and contemporary art, MASP
Stephanie Weber, Kuratorin, Lenbachhaus

Das Symposium wird live auf dem Youtube-Kanal des MASP übertragen. Die Veranstaltung wird simultan in Deutsch, Englisch, Portugiesisch und LIBRAS (brasilianische Gebärdensprache) übersetzt. Hier gelangen Sie zu den jeweiligen Live-Übertragungen:

November 9
Original (ohne Simultanübersetzung)
Portugiesisch
Englisch
Deutsch
Spanisch

November 10
Original (ohne Simultanübersetzung)
Portugiesisch
Englisch
Deutsch

Programm

9. November, 2022
15 – 15.10 Uhr
Einführung
Adriano Pedrosa, künstlerischer Leiter, MASP
Matthias Mühling, Kurator, Lenbachhaus

15.10 – 17 Uhr
Nego Bispo
Die Grenzen zwischen organischem und synthetischem Wissen

Nego Bispo bedient sich mündlicher Überlieferung und überliefertem Wissen, um eine Auswahl an Konzepten vorzustellen, die maßgeblich für seine Theorie sind und zum Ziel haben, die uns umgebende Welt auf andere Art zu begreifen.

Rachel O’Reilly
Filmproduktion gegen das anthropologisch-ökologische Bild

Eine Filmarbeit in/über "Nordaustralien" für ein internationales Publikum zu produzieren, bedeutet, sich an einer rassisierenden öko-geografischen Wiederholung zu beteiligen, die bei der Etablierung des Mensch-Natur-Modells der aufklärerischen Logik eine tiefgreifende Rolle gespielt hat, und die den globalen hierarchischen Farbverlauf von Arbeit (the color line of labor) mit erzeugt hat. Im Kontext der sich wiederholenden Krisen des Kapitalismus in Form von Klima- und Umweltkollaps, war es jedoch genau die Indigene Erfahrung der Verstrickung mit der kolonialen Landwirtschaft und dem Extraktivismus. welche der "Planetarität" (in Abgrenzung zum Begriff der Globalisierung) eine Lesbarkeit jenseits von sowie innerhalb der bestehenden materialistischen Filmpolitik verliehen hat. Wenn sich Filmemacher*innen den kolonialen Infrastrukturen ihrer eigenen künstlerischen Autonomie nicht vollständig entledigen können, kann sich dennoch nicht-Indigene kulturelle Arbeit – welche sich ansonsten explizit mit solchen Infrastrukturen befasst –  im Kontext der Indigenen Aufstände und der Widerstände gegen den Extraktivismus im Süden und in den Siedlerkolonien der fortlaufenden Kolonisierung entziehen.

Steve Kurtz
Ästhetik, Nekropolitik und ökologisches Ringen

In seinem Vortrag äußert Kurtz Bedenken über die Spracharmut des Umweltaktivismus, der dazu neigt, sich auf die Biopolitik zu konzentrieren und diese romantisch zu verklären, während die Nekropolitik (die Organisation des Todes) ignoriert wird. Es lässt sich problemlos ein Konsens darüber herstellen, dass die beschleunigte Umweltzerstörung (eine an sich ästhetische Formulierung) in erster Linie durch durch menschliches Handeln ist – oder einfacher formuliert, durch den Menschen selbst – bedingt ist.  Deutlich schwieriger ist es hingegen, eine Idee zum Umgang mit dem "Problem Mensch“ zu entwickeln – gerade deshalb, weil es keine Sprache gibt, in der die Erörterung dieses Problems nicht völlig monströs klingt. Lösungsansätze implizieren den Tod von Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen; denn der Wert menschlichen Lebens und der Wert der Umwelt stehen im extremen Konflikt zueinander. Jede Bemühung um eine Lösung dieses Widerspruchs erfordert die ausdrückliche Anerkennung seiner massiven nekropolitischen Dimension, gefolgt von einem strategischen Konzept, das entschlossen das nekropolitische Dilemma angeht. Die Frage stellt sich: Sind die Menschen fähig, eine solche Aufgabe zu lösen?

Vermittlung: Stephanie Weber, Kuratorin, Lenbachhaus

18.30 – 20.30 Uhr
Brigitte Baptiste
Trans-Ökologie

Seit seiner Einführung im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es viele Lesarten des Begriffs Ökologie. Die Verwendung von Ökologie als heuristisches Mittel hat ein vielfältiges Spektrum an interpretatorischen Ansätzen hervorgebracht, nicht nur in der Biologie, sondern auch für Unternehmen und Firmen, Institutionen, Gesetzsprechung und andere verbundene Bereiche. Die Ökologie führte außerdem zu einem besseren Verständnis der Rolle von Diversität in Evolution und Innovation. Daher rührt der Kulturkampf um die Berücksichtigung von Sex, Gender und care work als Schlüsselelemente zum Aufbau von Nachhaltigkeit. Transformativer Wandel -  ein Modewort in den Umwelt- und Sozialwissenschaften - , findet Einzug in ein Vokabular, das gleichsam in Transgender-Studien und queeren Ökologien Verwendung findet. Ein vielleicht überraschendes Resultat des wachsenden Bewusstseins des Menschen als Weltenformer*in, eine Rolle, die neue Identitäten und Existenzformen in sich birgt.

Jaime Vindel
Die fossil-ästhetische Nation: Industrielle Vorstellungswelten, amerikanischer Kolonialismus und spanische Moderne

Die Präsentation ergänzt Andreas Malms Ausführung zum unmittelbaren Zusammenhang zwischen neuen Formen der Arbeitsausbeutung in Fabriken und Industrien und der zunehmenden Konzentration von Kohlendioxid (CO2) in der Atmosphäre - wodurch die Dynamik hinter dem Klimawandel bis zum heutigen Tag befeuert wird. Die Bedeutung, die den fossilen Fantasien der industriellen Moderne in diesem Prozess zukommt, steht im Mittelpunkt meiner Betrachtung: meines Erachtens sind fossile Kultur und fossile Ökonomie untrennbar. Diese Erörterung geschieht im spanischen Kontext und soll hervorheben, inwiefern diese Vorstellungswelten nur in der langzeitlichen Betrachtung der kolonialen Moderne und im Zusammenhang mit den sozialen Spannungen in der Geschichte Spaniens in den amerikanischen und peninsularischen Gebieten zu begreifen sind. Als Diskussionspunkt dient mir hierbei ein Entwurf für ein Kolumbus-Denkmal, den der baskische Ingenieur Alberto Palacio für die kolumbianische Weltausstellung von 1893 entwickelte. Die Bilder dieses Projekts reflektieren die Vorstellung einer "ästhetisch-fossilen Nation".

Txai Surui
Wir sind der Wald

Indigene Völker glauben, dass sie teil des Walds sind. Den Ausspruch "Wir sind der Wald" kennt Txai Surui von indigenen Menschen unterschiedlicher Herkunft, auch ihrer eigenen. Aufgrund der Kosmologie und der Lebensweise der indigenen Gemeinschaften werden wir als die besten Beschützer*innen des Waldes erachtet, in erster Linie, weil sich unsere Philosophie der kapitalistischen Logik entzieht und im Wald nicht nur eine Geldquelle sieht. Umwelt und indigene Völker sind verwandte Themen und die Anschauung dieser Gemeinden spielt eine zunehmend bedeutsame Rolle bei der Überwindung der klimatischen und humanitären Krisen, die die Welt aktuell erlebt. In der Geschichte der Ökologie und Umweltpolitik war dies jedoch nicht immer der Fall. Wie können wir das Wissen der Ahnen wertschätzen, um die Zukunft zu retten? Wie lernen wir dem Wald zuzuhören?

Vermittlung: Daniela Rodrigues, kuratorische Assistentin, MASP

10. November, 2022
15–17 Uhr
Vandana Shiva
Erd-Demokratie: Der Schutz einer gemeinsamen Zukunft in Zeiten des Aussterbens

Als Menschheit stehen wir vor einer existentiellen Krise. In über 500 Jahren Kolonialismus wurden Indigene Völker entwurzelt, vertrieben und ausgerottet. Terra Madre, die lebendige Erde wurde durch die Kolonialisierung von Land und Menschen zu Terra Nullius, einem leeren Land, kraftlosem Rohmaterial und Privatbesitz. Diese Transformation und Kolonisation schreitet fort und droht diverse Arten und Kulturen auszurotten. Wir sind nicht unabhängig von der Erde, wir sind ein Faden im Netz des Lebens, wir sind Mitglieder der Erdenfamilie. Erd-Demokratie basiert auf lebendigen Ökonomien, lebendigen Demokratien und lebendigen Kulturen, die in ihrer Vielfältigkeit mit dem Netz des Lebens verwoben sind. Beruhend auf Gegenseitigkeit, Kooperation und Harmonie unterstützt und erhält jede Lebensform alle anderen. Das sollte sich in unserer Gesellschaft sowie in unserem Wirtschaftssystem widerspiegeln. In der Erd-Demokratie ist die Wirtschaft eine Unterkategorie der Ökologie und untersteht den Gesetzen von Mutter Erde. Erd-Demokratie schafft das Potential für eine tiefere Verbundenheit zwischen Menschen und anderen Lebewesen. Durch sie begreifen wir, dass auf einem vernetzten Planeten die Not des Aussterbens ein untrennbares Aussterben darstellt. Der Schutz anderer Kulturen und Arten ist der Schutz unserer gemeinsamen Zukunft.

Filipa Ramos
Ana Vaz‘ amerikanische Nacht

In der Installation "É Noite na América" (Es ist Nacht in Amerika) folgt Ana Vaz Tieren aus dem Zoo in Brasília mit ihrer Videokamera. Durch die Betrachtung der Geschöpfe als einzigartige Individuen enthüllt die Künstlerin ihre Geschichten von Gefangenschaft und Rettung und gewährt Einblicke in ihre faszinierenden und furchterregenden Leben. Zugleich eine Ode und ein Memento Mori auf das Wildleben des Cerrados, bildet diese Arbeit den Auftakt für einer Reihe von Analysen zum Potential künstlerischen und filmischen Schaffens beim Teilen und Kreieren von Narrativen über die Vergangenheit, die Gegenwart und – vor allem – die Zukunft einer Welt im Wandel.

Chico Mandira
Mandira Quilombo und das extraktive Reservat, ein Beispiel für Nachhaltigkeit

Chico Mandira spricht in seinem Vortrag über die Formierung seiner Gemeinde zwischen der Region Vale do Ribeira und der Südküste des Bundesstaats São Paulo, über die Anpassung an die Gegebenheiten einer strengen Umweltrichtlinie und darüber, wie ihnen durch extraktive Arbeit und die Verwaltung von Austern-Beständen die innovative Gründung eines extraktiven Reservats gelang. Die Arbeit von Chico und den Menschen von Mandira sichert Einkünfte, bewahrt die Umwelt und verschafft der Gemeinde durch die Zusammenführung gesellschaftlicher, ethnischer, wirtschaftlicher und ökologischer Ansätze sowohl national als international Anerkennung.

Vermittlung: David Ribeiro, kuratorischer Assistent, MASP

18.30–20.30 Uhr
Stefanie Hessler
Die ökologische Erotik des Wassers

Beim Schwimmen in den griechischen Gewässern vor der Küste von Milos begriff Stefanie Hessler ihre Beziehung zum Ozean zum ersten Mal als erotisch. Die Dichterin Anne Carson half ihr dabei, Worte für die körperliche und seelische Sehnsucht nach dem Meer zu finden. Sie beschreibt Eros als Grenzthema: Eros entfacht in mir den Wunsch, die Grenzen zwischen mir selbst und anderen aufzulösen, die gleichzeitig maßgeblich für dieses Spannungsverhältnis sind. Doch wenn das Wasser, im Ozean, sich gegen ihren Körper drückt, verschwimmen ihre Grenzen. In diesem Talk überlegt Hessler gemeinsam mit queeren und de-kolonialen Öko-Feminist*innen, ob unsere aktuelle Umweltkrise und ihre gesellschaftlichen Schnittpunkte in Erotophobie wurzeln – der Angst vor der Nähe zur Natur, vor der Einsicht, dass wir Natur sind. Mit den Werken der Künstlerinnen Katerina Teaiwa, Anne Duk Hee Jordan und anderen, in deren Praxis die Schnittstelle zwischen Natur, Sexualität und Geschlecht zunehmend in den Vordergrund rückt, plädiert sie für eine ökologische Erotik.

Gabriel Mantelli
Temperaturgeschichten: Führt die Dekolonialisierung des Klimas zu einer Erwärmung der Justiz?

Es ist unverantwortlich, eine einzige Geschichte der Ökologie zu propagieren, da sie die Fülle der Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen auf diesem Planeten nicht erfassen kann. In der jüngeren Zeit der "Moderne" und "Wissenschaft" wurde eine "Neuerzählung" der Geschichte des Kultur/Natur-Binoms sowie der physischen, biologischen und künstlichen Stütze dessen, was wir konventionell als "Leben" bezeichnen, durch das Bündnis zwischen Kolonialismus und kapitalistischem System maßgeblich erschwert. Das Ende der Welt lässt sich anscheinend nicht aufschieben. In einer Welt, in der der Klimawandel globale Verhandlungen beherrscht, Unternehmen prägt und diskursive Räume für Unterscheidungen zwischen "gut" und "böse" eröffnet, strapazieren Themen wie Klimagerechtigkeit, Kohlenstoff-Kolonialismus und Umweltrassismus unser Blickfeld und führen zu Rissen in der Definition von „Recht“ und „Gerechtigkeit“. Die Vorschläge zur Dekolonialisierung zeichnen im Spannungsfeld dieser Problempunkte tugendhafte Wege auf, ersetzen Erkenntnistheorien und dienen dabei als eine veredelte Form des "Greenwashing", sowohl innerhalb als auch außerhalb eines anthropologischen Rechtsverständnisses. In einer Welt im Klimanotstand argumentiert dieser Vortrag mit dem Verweis auf die Dringlichkeit zur Dezentralisierung von "Temperaturen" und der kritischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Dekolonialisierung von "Erwärmung".

Judy Chicago
Bevor es zu spät ist


In ihrer Präsentation umreißt die Künstlerin Judy Chicago die Entwicklung von Umweltthemen und ökologischen Anliegen in ihrem Werk bis zurück in die 1960er Jahre. Der Querschnitt durch ihre Karriere umfasst Bilder, die den Themen Umwelt, Ökologie, Klimagerechtigkeit und Tierrechten gewidmet sind.

Vermittlung: Isabella Rjeille, Kuratorin, MASP

In Kooperation mit Museu de Arte de São Paulo (MASP)